Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Hans Baumann 27. März 2020

Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den meisten Ländern in den letzten 40 Jahren deutlich an, in der Schweiz bei den Männern um fast zehn Jahre auf 81.7 Jahre, bei den Frauen um gut sechs Jahre auf 83. 6 Jahre. In der Regel gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen eines Landes und der Lebenserwartung. Wenn das Pro-Kopf-Einkommen steigt, steigt auch die Lebenserwartung und umgekehrt. Dass ist zwar oft so, weil mit der Zunahme des Volkseinkommens meist auch die Armut abnimmt und die Gesundheitsversorgung verbessert wird, aber nicht immer. Dies zeigt der Vergleich der Schweiz mit den USA. In beiden Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahren gestiegen, in den USA sogar stärker als in der Schweiz. In den USA ist aber die Lebenserwartung von Frauen und Männern in den letzten Jahren gesunken.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, National Center for Health Statistics, USA)

DROGENTOTE. Als Hauptgrund für die zunehmende Sterblichkeit in den USA wurde der Missbrauch von opiathaltigen Schmerzmitteln ausgemacht, der in den 2000er Jahren stark zugenommen und heute gegen 70’000 Drogentote pro Jahr zur Folge hat. Hinzu kommen andere Faktoren: Der ungesunde Lebensstil mit Übergewicht, Diabetes etc., was vor allem bei der ärmeren Bevölkerung verbreitet ist, an denen der wirtschaftliche Aufschwung weitgehend vorbei gegangen ist. Die letzteren Faktoren sind auch der Grund, warum die Lebenserwartung in den USA generell tiefer ist als in der Schweiz. Entscheidend für die Lebenserwartung ist auch die Qualität des Gesundheitssystems und der sozialen Absicherung bei Krankheit.

Im letzten Jahrhundert war es die Spanische Grippe, die für einem vorübergehenden Einbruch der Lebenserwartung verantwortlich war. Im Herbst 1918 verdoppelte sich die Sterblichkeit in der Schweiz und stieg auf über 10’000 Tote monatlich. Insgesamt fielen der Spanischen Grippe rund 25’000 Personen zum Opfer. Als Folge davon sank die Lebenserwartung von 55.4 auf 46.3 Jahre und erreichte erst 1920 wieder das Niveau der Jahre vor der Grippe-Pandemie, um dann wieder stetig anzusteigen.  

SOLIDARISCHE LÖSUNGEN. Mit der ­Corona-Krise könnte sich dies jetzt wiederholen, wenn auch hoffentlich nicht im gleichen Ausmass. Es hängt wesentlich davon ab, wie schnell der Anstieg der Infektionen eingeschränkt wird, wann die Fallzahlen wieder abnehmen und ob wir im nächsten Winter erneut vor der gleichen Situation stehen. Sicher ist zudem ein Rückkoppelungseffekt: Die jetzige Einschränkung der Wirtschafts­tätigkeit senkt die Einkommen und verursacht Arbeitslosigkeit, was zu einer Zunahme der Armut mit all ­ihren Folgen führen kann. Je länger anhaltend die Wirtschaftskrise ist, desto höher wird die Sterblichkeit sein und desto eher handelt es sich nicht nur um einen vorübergehenden Knick sondern um einen Trendbruch bei der Lebenserwartung. Gefragt sind deshalb nicht nur gesundheitspolitische Massnahmen, sondern auch eine Wirtschafts- und Sozial­politik, die solidarische Lösungen aus der Krise aufzeigt, so dass längerfristige Folgen vermieden werden können.

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Sind Rationierung und Verbote besser?

Wollen wir die Klimaziele erreichen, sind radikale Massnahmen nötig

Der Bundesrat will, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral ist. Das gleiche Ziel setzt sich die EU-Kommission mit ihrem kürzlich präsentierten «Green Deal». Nicht allein die Klimabewegten, auch viele in der Wissenschaft Tätige finden die Frist bis 2050 zu lang. Mindestens in wichtigen Teilbereichen, wie zum Beispiel der Heizenergie und dem Verkehr, muss das Ziel Netto-Null viel früher erreicht werden, damit das internationale Klimaziel (maximal 1.5 Prozent Erwärmung) eingehalten werden kann. Und es braucht sofortige und relativ radikale Massnahmen, wenn dieses Ziel innert nützlicher Frist erreicht werden soll. Der von verschiedenen Städten und Regionen ausgerufene «Klimanotstand» hat deshalb nicht nur Symbolwert. Er soll auch darauf hinweisen, dass wir in einer gravierenden Krise stecken, die durchaus Notstandsmassnahmen bis hin zu einem «System Change», das heisst einem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft bedingen. 

Die bisher von Regierungen und Parlamenten beschlossenen Massnahmen erscheinen dagegen wenig wirksam um nicht zu sagen lächerlich.  Hier nur zwei Beispiele: Das Schweizer Parlament hat sich auf eine CO2-Lenkungsabgabe von 12 Rappen pro Liter Treibstoff geeinigt und dies nur dank der nach den Wahlen erstarkten grünen Fraktionen. Dies entspricht beim Benzin einem Aufschlag von gerade 7 Prozent. Kaum anzunehmen, dass eine solche Erhöhung die Mobilitätsgewohnheiten entscheidend verändert oder dazu führt, dass schnell auf alternative Antriebssysteme umgestellt wird. In Österreich hat sich die neue schwarz-grüne Koalition vorgenommen, die Klimaneutralität bereits 2040 zu erreichen. Das Beispiel der dafür u.a. beschlossenen Flugticketabgabe von 12 (!) Euro wirft allerdings die Frage auf, wie ernst solche Zielsetzungen zu nehmen sind. Auch der Handel mit CO2-Zertifikaten, für viele Wirtschaftsliberale der Königsweg in der Klimadebatte, hat sich bisher als eine wenig wirksame Massnahme zur Reduktion der Treibhausgase erwiesen. 

Roosevelts «New Deal» war auch ein «Green Deal”

Dabei zeigt die jüngere Geschichte, wie schnell und radikal eine Volkswirtschaft umgepolt werden kann, wenn nur die Politik es will und wenn die Massnahmen, die dafür benötigt werden, transparent, für die Bevölkerung einsichtig und deshalb auch akzeptabel sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch eine möglichst «gerechte» Lastenverteilung.  Dabei wird unter anderem oft auf den in den USA von Franklin D. Roosevelt ab 1933 durchgeführten «New Deal» verwiesen. Die Weltwirtschaftskrise mit Deflation und hoher Arbeitslosigkeit verlangte damals radikale Massnahmen. Dazu gehörten nicht nur Arbeitsbeschaffungsmassnahmen im grossen Stil, vor allem zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, sondern auch Finanzmarktregulierungen und Massnahmen zur gerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen: die Einführung eines staatlichen Mindestlohns, eine Höchstarbeitszeit von 44 Stunden, eine staatliche Altersrente, eine Unternehmenssteuer und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes für hohe Einkommen auf 79 Prozent, später dann sogar auf 94 (!) Prozent. Das heisst, dass insbesondere die Unternehmen und die Bezüger hoher Einkommen für die Finanzierung des New Deal zur Kasse gebeten wurden; gleichzeitig wurde die soziale Absicherung gegen unten deutlich verbessert. 

Weniger bekannt ist, dass die Regierung Roosevelt damals auch mit einer ökologischen Krise zu kämpfen hatte. Als «Dust Bowl» bezeichnete man die Dürreperiode, die den mittleren Westen der USA 1935-38 heimsuchte und riesige Landstriche im wahrsten Sinn des Wortes verwüstete. Während der ohnehin prekären Situation breiter Bevölkerungsschichten in der Weltwirtschaftskrise führte diese Umweltkrise zu Hungersnöten unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung und zur Vertreibung von Hunderttausenden von Farmern in Richtung Kalifornien, wo sie als «Wirtschaftsflüchtlinge» alles andere als mit offenen Armen empfangen wurden.[1] Als Reaktion darauf wurde von der Roosevelt-Administration ein 160 km (!) breiter und von der Kanadischen Grenze bis nach Texas reichender Grüngürtel, der «Great Plains Shelterbelt», angelegt, um die Wüstenstürme zu brechen und den mittleren Westen wieder bewohnbar zu machen. Beim über 12 Jahre dauernden Aufforstungsprojekt, das natürlich auch ein willkommenes Arbeitsbeschaffungsprogramm war, wurden 220 Millionen Bäume gepflanzt, wohl bis heute eines der grössten Ökologieprojekte überhaupt. 

Drastische Massnahmen in der Kriegswirtschaft

Die Umstellung der Gesellschaft auf Kriegswirtschaft ist auch ein Beispiel dafür, wie relativ rasch in ausserordentlichen Situationen die Wirtschaft umgebaut werden kann. Dabei muss man nicht einmal das Beispiel eines Staates heranziehen, der aktiv ins Kriegsgeschehen eingreifen musste. Auch die Schweiz hat während des zweiten Weltkrieges radikale Mittel ergriffen, um die Nöte der Bevölkerung zu lindern und die Verteidigung des Landes zu sichern. Am bekanntesten in die «Anbauschlacht» des damaligen Bundesrats Wahlen, der die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln aus eigener Produktion sichern sollte. Geplant war eine Verdreifachung der Ackerbaufläche, insbesondere für den Anbau von Kartoffeln. Erreicht wurde schliesslich immerhin eine Verdoppelung. 

Ab 1941 wurde nach deutschem Vorbild ein umfassendes Rationierungssystem eingeführt, das nach und nach einen Grossteil aller Konsumgüter umfasste und nach Konsumgewohnheiten und Einkommensverhältnissen differenziert wurde, um eine möglichst «gerechte» Verteilung der Rationierungsmarken zu erreichen. Auch das Benzin wurde rationiert, was dazu führte, dass viele Halter von Fahrzeugen, die aus beruflichen oder anderen Gründen das Auto benötigten, ihre Fahrzeuge auf Holzvergaser umrüsteten. Das war eine relativ komplizierte Konstruktion, die ermöglichte, das explosive Gasgemisch für die Verbrennung im Motor mittels Holzfeuerung zu erreichen. Dank Rationierung des Benzins wurde also schon damals mindestens temporär ein Teil der Fahrzeuge in der Schweiz auf CO2-freie Mobilität umgestellt!

Rationierung gerechter?

Die Einschränkung des privaten und gewerblichen Verkehrs geschah aber nicht nur durch Treibstoff-Rationierung. Da die Armee Fahrzeuge benötigte und zu wenig Geld für den Import von Fahrzeugen vorhanden war, wurden zunächst private Lastwagen von der Armee requiriert, später dann auch immer mehr Personenwagen. Das heisst, die Fahrzeuge wurden den Leuten einfach gegen eine bescheidene Entschädigung weggenommen, der private Motorfahrzeugverkehr kam praktisch zum Erliegen. Trotz dieser relativ einschneidenden Massnahmen scheint dieses System bei der Bevölkerung angesichts der Bedrohungslage der Schweiz auf keinen grösseren Widerstand gestossen zu sein. Insbesondere das Rationierungssystem wurde als «gerecht» empfunden, da allen pro Kopf der Bevölkerung etwa gleich viele Güter zustanden. Ohne Rationierung lassen knapp werdende Güter die Preise in die Höhe schnellen, was nicht nur der Spekulation Auftrieb gibt, sondern auch dazu führt, dass sich nur noch Reiche diese Güter leisten können und die Ärmeren leer ausgehen.

In der heutigen Diskussion über die CO2-Abgabe auf Treibstoff oder den Flugticket-Zuschlag ist die gerechte Verteilung der Lasten ebenfalls ein grosses Thema. Ein Teil des Problems kann durch eine Lenkungsabgabe gelöst werden. Das heisst, dass der grösste Teil der Lenkungsabgabe gleichmässig an die Bevölkerung zurückerstattet wird. Diejenigen, welche wenig Treibstoff brauchen oder wenig fliegen, erhalten dann mehr zurückerstattet als sie über den Zuschlag ausgeben. Das hat zwar eine zusätzliche Lenkungswirkung, löst aber das Verteilungsproblem nicht vollständig. Leute mit sehr hohen Einkommen werden die zusätzlichen Kosten in Kauf nehmen und trotzdem am Wochenende nach New York fliegen oder mit ihrem schweren SUV herumfahren. Leute mit tiefen oder mittleren Einkommen können sich das nicht mehr leisten. Kommt hinzu: Das Problem derjenigen, die aus verschiedenen Gründen auf ein Fahrzeug angewiesen sind, z.B. im Bergebiet wohnen und keine gute ÖV-Versorgung haben, ist damit nicht gelöst.

Ist da nicht ein System mit Rationierung in Kombination mit Verboten gerechter und würde von der Bevölkerung eher akzeptiert? So wäre denkbar, dass den Fahrzeughaltenden z.B. ein Kontingent von max. 100 Litern Benzin/Diesel pro Monat zustünde. Dies könnte je nach Region und Abdeckung mit öffentlichem Verkehr abgestuft sein. Gewerbliche Fahrzeuge erhielten ein grösseres Kontingent. Beim Flugverkehr wäre ein Kontingent von pro Person z.B. 3’000 Flugkilometern denkbar (heutige werden pro Kopf der Bevölkerung in der Schweiz 9’000 km pro Jahr geflogen!). Für eine Reise in die USA müsste man dann zwei Jahre «ansparen». Firmen bekämen zusätzliche Kontingente. 

Lernen aus der Vergangenheit

Ein System der Rationierung könnte durch klarere Emissionsgrenzwerte ergänzt werden. Angesichts der Tatsache, dass die CO2-Emissionen des Autoverkehrs im letzten Jahr trotz Grenzwerten angestiegen sind, müsste das System viel effektiver funktionieren als mit den heutigen Grenzwerten für den Flottenverbrauch, die ja offenbar kaum etwas nützen. Bei Personenwagen wäre z.B. ein Verbot von Antrieben mit mehr als 120 Gramm CO2 mit einem jährlichen Absenkungspfad von den heutigen technischen Möglichkeiten her ohne weiteres durchsetzbar. Beim Flugverkehr müssten Vorgaben gemacht werden für die jährliche Senkung des Anteils an fossilem Treibstoff. 

Das System von Rationierungen ist in einem globalisierten Markt nicht so einfach realisierbar wie in Zeiten der Kriegswirtschaft. Bei einer Benzinrationierung würde ohne strikte Zollkontrollen viel mehr im Ausland getankt oder es gäbe sogar einen Handel mit illegalen Treibstoffimporten und einen Schwarzmarkt mit all seinen Auswüchsen. Allerdings sind Rationierung und Verbote bereits heute kein Tabu mehr: Der Kanton Basel-Stadt kennt für Neubauten und beim Ersatz bestehender Heizungen bereits ein Verbot von Öl- und Gasheizungen und die Musterverordnung der Kantone für den Energiebereich aus dem Jahr 2018 sieht dies eigentlich für alle Kantone vor. Leider wurde dies in den meisten noch nicht umgesetzt. Bis jetzt gibt es aber kaum Opposition gegen solche Massnahmen, auch nur eher zaghaft vom Hauseigentümerverband und der Immobilienlobby. Warum ist ein ähnlich striktes Regime wie bei Neubauten und Ersatzbauten nicht auch beim Individualverkehr und Flugverkehr möglich?

Die Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt: Auch einschneidende Massnahmen und grosse Investitionen, ja sogar ein Umbau der Wirtschaft, werden von der Bevölkerung akzeptiert, wenn deren Dringlichkeit wie in Krisenzeiten offensichtlich ist und die Verteilung der Lasten nicht einseitig auf Kosten der unteren und mittleren Einkommensschichten oder einzelner Regionen geht.  Wichtig ist zudem, dass vor allem die Verursachenden zur Kasse gebeten werden und die Massnahmen transparent sind. Im Moment scheint Vielen die Dringlichkeit von «Notstandsmassnahmen» für die Klimawende noch nicht bewusst zu sein, auch wenn die Klimastreiks eine enorme Bewegung ausgelöst haben. Dies kann sich aber auch hierzulande schnell ändern, wenn die persönliche Betroffenheit durch die Klimaveränderung ähnlich gross wird wie in anderen Weltregionen, die von extremen Wettersituationen, Überschwemmungen, Trockenheit oder sogar Hungersnöten heimgesucht werden. 


[1] Beschrieben wurde dieses Elend eindrücklich von John Steinbeck in «Früchte des Zorns», besungen u.a. von Woody Guthry. 

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Klimawende verlangt mehr staatliche Investitionen

Klimawende verlangt mehr staatliche Investitionen

Hans Baumann

Journalisten picken gern jene Ergebnisse aus dem jährlichen OECD-Bericht heraus, die ihnen gerade in den Kram passen. Im jüngsten Bericht über die Schweiz (OECD 2019) zum Beispiel die Empfehlung, das Rentenalter der demographischen Entwicklung anzupassen bzw. zu flexibilisieren.

Der OECD-Länderbericht geht aber auch auf andere, dringende Probleme ein. Wie in vielen anderen Industrieländern sinken oder stagnieren in der Schweiz die öffentlichen Investitionen seit vielen Jahren. Das sind Investitionen in die Infrastruktur, also die Energieversorgung, den Verkehr, das Gesundheitswesen, das Bildungssystem usw. Tatsächlich sind die staatlichen Brutto-Anlageinvestitionen, darin eingerechnet sind alle Investitionen in den Ersatz und in den Unterhalt bestehender Anlagen, in der Schweiz seit 1997 nur um ca. 20 Prozent gestiegen, drei Mal weniger als das Bruttoinlandsprodukt. Die staatlichen Investitionen sind auch gemessen an den gesamten Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden gesunken, nämlich von über 7 Prozent auf ungefähr 6 Prozent im Jahr 2017. Von 2009 bis 2016 sind sie auf dem Niveau von rund 12 Milliarden Franken verharrt. Erst 2017 gab es wieder einen Anstieg auf gut 13 Milliarden. Der grösste Teil dieser Investitionen ging zudem in die Erneuerung und den Unterhalt der Infrastruktur. Nur Anlagen im Wert von ein bis zwei Milliarden waren in den letzten Jahren Neuinvestitionen, haben also tatsächlich das «Volksvermögen», vermehrt. Das ist bedeutend weniger als in den 1990er Jahren. Gemessen am Bruttoinhaltsprodukt sind die öffentlichen Netto-Investitionen in der Schweiz deutlich tiefer als in anderen vergleichbaren Ländern. Während dieser Wert im OECD-Durchschnitt in den letzten Jahren rund 0.5 Prozent betrug, investierte die öffentliche Hand in der Schweiz gemessen am BIP nur rund 0.25 Prozent (OECD 2019, S. 35). 

Quelle: Eidg. Finanzverwaltung, Finanzstatistik der Schweiz, div. Jahrgänge, eigene Berechnungen

Staatlicher Handlungsspielraum wird kleiner

Die meisten Länder weisen für die letzten Jahre einen starken Anstieg und eine weitere Konzentration von Privatvermögen auf. Im Gegensatz dazu ist das öffentliche Vermögen stagniert (Méaulle 2019, S. 74). In der Schweiz mit ihren hohen Zuwächsen an Privatvermögen ist diese Diskrepanz besonders ausgeprägt. Während seit der Jahrtausendwende das öffentliche Vermögen nur um 1.4 Milliarden pro Jahr zugenommen hat, erhöhte sich das private Nettovermögen jährlich um über 130 Milliarden, also fast 100 Mal mehr (Crédit Suisse 2019). Eine Rolle kann dabei auch die Privatisierung ehemals öffentlicher Unternehmen, wie z.B. Spitäler, gespielt haben. In der Schweiz, mit seiner relativ gut ausgebauten Infrastruktur, kann deshalb nicht gerade von «öffentlicher Armut» gesprochen werden. Zudem benötigt eine gut ausgebaute Infrastruktur in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft immer mehr Mittel für die Instandhaltung. Trotzdem: Durch die Konzentration des Reichtums bei Privaten bei gleichzeitiger Stagnation der öffentlichen Vermögenswerte verringert sich der Spielraum des Staates zur Regulierung der Wirtschaft, für Massnahmen gegen die zunehmende Ungleichheit aber auch für neue Herausforderungen wie den Klimawandel.   

Neue Herausforderungen bedingen höhere Investitionen

Dabei gäbe es viel zu tun: Der jüngste OECD-Bericht empfiehlt, vor allem dort mehr zu investieren, wo grosse Herausforderungen auf uns zukommen. Bei der Klimawende, der Alterung der Bevölkerung, bei der Bildung und Kinderbetreuung. Der schweizerische Thinktank Denknetz schätzt, dass für die dringenden Massnahmen der Klimawende, wie die Energieversorgung oder der Umbau der Verkehrsinfrastruktur,  und die sozialen Reformvorhaben in Bereichen wie Altersvorsorge, Langzeitpflege oder Kinderbetreuung, jährliche Mehrausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden in der Höhe von über 50 Milliarden Franken nötig sind (Baumann u.a. 2019). Ein grosser Teil davon sind öffentliche Investitionen und Investitionsbeiträge.

Der OECD-Bericht weist auch darauf hin, dass höhere öffentliche Investitionen einen nützlichen Nebeneffekt auf die Geldpolitik hätten. Davon ausgehend, dass ein Teil des Aufwertungsdruckes des Schweizer Frankens durch die hohen Leistungsbilanzüberschüsse verursacht werden, können vermehrte öffentliche Investitionen durch die Ankurbelung der Binnenwirtschaft dazu beitragen, diese Überschüsse zu verringern und einer Aufwertung des Frankens entgegenzuwirken.   

Literatur

Baumann, Hans: Sinkende staatliche Investitionen gefährden Wachstum. In: Ökonomenstimme 27.6.2016.

Baumann, Hans, Kallenberger, Werner, Rey, Romeo, Wickli, Johannes (2019): Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle. Denknetz Working Paper. 

Crédit Suisse Research Institute (2019): Global Wealth Databook, October 2019. 

Eidgenössische Finanzverwaltung: Finanzstatistik der Schweiz. Div. Jahrgänge.

Fournier, Jean-Marc (2016): The Positive Effect of Public Investment on Potential Growth, OECD Working Papers No. 1347. Paris.

Marin, Dalia: Jetzt ist für den deutschen Staat genau die richtige Zeit zu investieren. In: Ökonomenstimme 30.8.2019.

Méaulle, Matthieu (2019): Gewinne, Investitionen und Gleichheit: eine vorläufige Einschätzung. In: Peter Scherrer, Juliane Bir, Wolfgang Kowalsky, Reinhard Kuhlmann und Matthieu Méaulle: Jetzt für ein besseres Europa! Brüssel.

OECD (2019): OECD Economic Surveys, Switzerland 2019. Paris.

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Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle

Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle

Die Unternehmenssteuersätze sind weltweit ungebrochen am Sinken. Die Gewinnsteuersätze, die in den 1980er Jahren im OECD-Durchschnitt noch gegen 50 Prozent betrugen, haben sich fast halbiert. Die Schweiz machte bei diesem Steuerwettbewerb bereits in den letzten Jahren fleissig mit. Dabei haben sich die effektiv bezahlten Steuern immer mehr von den statutarischen (d.h. in den Steu ergesetzen festgelegten) Steuersätzen entfernt:

Verschärfter Steuerwettbewerb und Umverteilung

In der Schweiz geschah dies seit 1998 vor allem wegen der Einführung der Steuerprivilegien für Holdingfirmen und ähnliche Gesellschaften. Solche oder andere Steuervergünstigungen gibt es allerdings auch in anderen Ländern.

Die Senkung der Unternehmenssteuern lässt sich auch an der Entwicklung der in der Schweiz anfallenden Gewinne, wie sie gegenüber den Steuerbehörden deklariert werden, und dem daraus resultierenden Steuerertrag zeigen. So entwickelten sich die Unternehmensgewinne seit 1990 rasant, nämlich von weniger als 50 Milliarden auf fast 400 Milliarden Franken im Jahr 2015. Das ist eine Verachtfachung. Zieht man davon die Beteiligungsgewinne ab, die nicht versteuert werden müssen, da sie in einem anderen Kanton oder Staat hätten versteuert werden sollen (was aber nicht immer der Fall ist…), kommt man immer noch auf eine Steigerung von 25 auf 130 Milliarden, das ist über fünf Mal mehr. Demgegenüber haben die Steuereinnahmen von Bund, Kanton und Gemeinden nur von gut 7 auf 21 Milliarden zugenommen. Die effektiven Steuersätze sanken damit von fast 30 auf gut 16 Prozent, bzw. 5.5 Prozent unter Einbezug der Beteiligungsgewinne. 1990 erreichten die Beteiligungsgewinne erst einen Drittel der Gesamtgewinne. Im Jahr 2000 waren sie bereits gleich hoch wie die Gewinne ohne Beteiligungen. Und im Jahr 2015 waren die Beteiligungsgewinne, also die Gewinne, die steuerfrei sind, schon beinahe drei Mal höher.

Der Abwärtstrend bei den Unternehmenssteuern kann nicht so weitergehen. Zum ganzen Artikel geht es hier. Eine Kurzfassung ist in der Denknetz-Zeitung erschienen.

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Familien zahlen mehr Krankenkasse als Steuern

Familien zahlen mehr Krankenkasse als Steuern

15. November 2019

Die hohen Krankenkassenprämien ­belasten unsere Haushaltsbudgets ­extrem, das wissen vor allem jene, die eine Familie mit Kindern durchbringen müssen. Bei einem mittleren Einkommen müssen Familien in den meisten Kantonen sogar mehr für die Krankenkasse aufwenden als für alle Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern zusammen. Das gilt zum Beispiel für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 125’000 Franken. Dies entspricht ­einem steuerbaren Einkommen von etwa 87’000 Franken. Das ist in der Schweiz ziemlich genau das mittlere Haushaltseinkommen einer Familie dieser Grösse. Im Schweizer Durchschnitt zahlt diese Familie pro Jahr 11 200 Franken Krankenkasse und 10’900 Franken Steuern. Dies beinhaltet nur den obligatorischen Teil der Kranken­kassenprämie, ohne Zusatzversicherung. Bei diesem Einkommen gibt es auch keinen Anspruch auf Prämien­verbilligung.

(Quellen: BfS, Einkommens- und Vermögenssteuern der natürlichen Personen, 2018; BAG, Prämienregionen 2020.)

Nur in einigen Kantonen mit relativ ­hohen Steuern wie im Kanton Bern oder im Jura sind die Steuern höher als die Krankenkassenprämie. Die ­Unterschiede zwischen den Kantonen sind nicht nur bei der Steuerbelastung, ­sondern auch bei den Krankenkassenprämien hoch. So bezahlt etwa in ­Basel-Stadt eine Familie 70 Prozent mehr Prämie als im Kanton Uri.

EXTREME UNGLEICHHEIT. Da oft Kan­tone mit einer relativ hohen Steuerbe­lastung auch hohe Krankenkassen­prämien haben, ergibt dies enorme Unterschiede. Die Gesamtbelastung ist für die gleiche Familie in Neuenburg fast zweieinhalb Mal so gross wie in Zug. Oder in Bern rund 50 Prozent ­höher als im Kanton Schwyz. Der Grundsatz in Artikel 8 der Bundesverfassung – «alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» – gilt offensichtlich weder für das Steuergesetz noch für das Krankenversicherungsgesetz. Der hohe Anteil der Krankenkassenprämien und die Unterschiede zwischen den Kantonen sind auch die Gründe dafür, dass unser Steuersystem nur eine geringe Umverteilungswirkung zwischen Arm und Reich hat. Es ist Zeit, dies zu ändern. Mit einer wirksamen Steuerharmonisierung oder der Krankenkasseninitiative der SP. Diese will die Prämienbelastung auf 10 Prozent des steuerbaren Einkommens begrenzen.

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Ökologie und Gewerkschaften: Wie vor 35 Jahren alles begann.

Ökologie und Gewerkschaften: Wie vor 35 Jahren alles begann.

Schweizer Gewerkschaften spielten bezüglich der Ökologiefrage früher eine Art Vorreiterrolle. 1983 versuchte die damalige Gewerkschaft Bau und Holz GBH als erste Arbeitnehmerorganisation, die Forderung nach Beschäftigungssicherung mit ökologischen Anliegen zu verbinden. Das war nicht nur in der Schweiz sondern auch im internationalen Rahmen eine Pionierleistung. Heute, angesichts der Klimakatastrophe und der zahnlosen CO2-Politik, ist dies wieder hochaktuell.

Wirtschaftskrise, Ölpreisschock und Kaiseraugst: Nachdem sich die Schweizer Wirtschaft von der grossen Wirtschaftskrise 1975/76 etwas erholt hatte, folgten 1982/83 wiederum zwei Rezessionsjahre, die allein in der Bauwirtschaft erneut rund 20‘000 Arbeitsplätze kostete. In breiten Kreisen der Bevölkerung wuchs gleichzeitig das Bewusstsein um die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, ausgelöst durch den Ölpreisschock und den Bericht des „Club of Rome“ von 1973 sowie dem bis anhin schwersten Reaktorunfall im Atomreaktor von Harrisburg (Three Miles Island, USA 1979). Grosse Teile der Linken in der Schweiz solidarisierte sich mit den Besetzern des geplanten Atomkraftwerks Kaiseraugst und kritisierten das „grenzenlose Wachstum“ und die „Verbetonisierung der Schweiz“. Die Gewerkschaften taten sich zunächst schwer mit diesem Umdenken. Kraftwerks- und Autobahnbau wurde lang ausschliesslich mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Sicherung des Wohlstands verbunden. Aber auch in den Gewerkschaften tat sich in diesen Jahren einiges. Mit der Ausdehnung des Organisationsbereiches auf die Angestellten und dem zunehmenden Einfluss der Neuen Linken wurden neue Ideen und neue Forderungen in die gewerkschaftlichen Diskussionen eingebracht. Neben ökologischen Fragen ging es dabei auch darum, qualitative Aspekte der Arbeit und darunter vor allem die Arbeitszeitfrage wieder in den Vordergrund zu rücken. Dies löste zum Teil hitzige Diskussionen aus.

Das Programm von 1983: Die damalige Gewerkschaft Bau und Holz, GBH, eine Vor- gängergewerkschaft der heutigen Gewerkschaft UNIA, hatte sich unter dem Eindruck der Umweltbewegung und des Unfalls im Atomkraftwerk bei Harrisburg bereits 1982 gegen den Bau zusätzlicher Atomkraftwerke ausgesprochen und als Alternative gefordert, das vorhandene Energiesparpotential durch neue Technologien und Gebäudesanierungen auszuschöpfen. Dies war damals alles andere als selbstverständlich. Denn am Bau und Betrieb neuer Kraftwerke hingen Zehntausende von Arbeitsplätzen. Vor allem die damalige Gewerkschaft der Maschinen- und Metallindustrie SMUV fuhr eine viel konservativere Linie und hielt lange an der Atomkraft als Königsweg fest.

Die Gewerkschaftsleitung der GBH beauftragte 1983 ein Berner Planungsbüro damit, das mögliche Bauvolumen in der Schweiz aufzuzeigen, das gleichzeitig beschäftigungswirksam aber auch ökologisch und sozial vertretbar und sinnvoll ist. Die beiden grossen Schwerpunkte im Programm waren die Energiesparmassnahmen, vor allem Wärmedämmung an Gebäuden und Solaranlagen und die Förderung des öffentlichen Verkehrs.

Allein für diese beiden Bereiche wurde ein Arbeitsvolumen von rund 15‘000 Arbeitsplätzen während 20 Jahren errechnet. So konnte aufgezeigt werden, dass mit Investitionen in den ökologischen Umbau viel mehr und qualitativ bessere Arbeitsplätze geschaffen werden können als beim Bau und Betrieb von Atomkraftwerken. Das Programm enthielt aber auch die Forderung nach Investitionen in landwirtschaftliche Bodenverbesserungen, Lärmschutz, Radwegbau, Alterseinrichtungen etc. Einige der vorgeschlagenen Massnahmen wurden später realisiert, zum Beispiel mit der Bahn 2000 und den Alptransit-Verbindungen. Andere Massnahmen, wie die massive Förderung der Solarenergie, stehen heute im Zuge des Klimawandels und der nötigen Energiewende erneut zur Diskussion.

Arbeitszeitverkürzung und vorzeitige Pensionierung: Das Programm von 1983 zeigte nicht nur die Beschäftigungswirkung von Umweltschutz- und Energiesparmassnahmen auf. Unter dem Eindruck der starken Produktivitätszuwächse in der Schweizer Wirtschaft aber auch der zunehmenden Kämpfe um die 35-Stundenwoche im Ausland, zunächst in der deutschen Metallindustrie und später auch in Frankreich, wurde auch die Beschäftigungswirkung einer Arbeitszeitverkürzung erfasst. Damals wurde im Bau im Jahresdurchschnitt noch über 45 Stunden gearbeitet, eine Verkürzung auf 40 Stunden ergab einen Beschäftigungseffekt von über 20‘000 Arbeitsplätzen. Auch die vorzeitige Pensionierung der Bauarbeiter wurde damals schon unter dem Aspekt der Beschäftigungswirkung gefordert. Auch hier wurde die Ökologiefrage angeschnitten: Produktivitätsfortschritte vermehrt für kürzere Wochen- und Lebensarbeitszeit anstatt für Lohnzuwächse zu verwenden, bedeutet auch weniger Konsum, weniger Umweltbelastung und mehr Lebensqualität.

Tatsächlich wurde in den kommenden Jahren im Baugewerbe wie auch in anderen Branchen die Arbeitszeit von 45 auf rund 40 Stunden verkürzt und das Pensionsalter wurde 2003 auf dem Bau nach intensiven Arbeitskämpfen auf 60 Jahre herabgesetzt. Letztere Kampagne wurde dann allerdings nicht in erster Linie mit dem Argument der Beschäftigungssicherung geführt, sondern als notwendige Antwort auf die massive Belastung der Bauarbeiter und den frühzeitigen körperlichen Verschleiss durch die Bauarbeit.

Die Programme von 1991 und 1995: Das Programm „Bauen und Bauarbeit 2000“ der GBH von 1991 enthielt dann neben einer Neueinschätzung des Beschäftigungseffekts von ökologisch sinnvollen Investitionen einen grösseren Teil zu den Themen Migration, Gesundheitsschutz, Arbeitsbelastung und Einkommenssituation auf dem Bau. Es diente auch der Vorbereitung der Verhandlungen mit den Arbeitgebern.

Von der Nachfolgeorganisati- on der GBH, der Gewerkschaft Bau und Industrie GBI wurde 1995 die Studie „Ein ökologisch sinnvolles Beschäftigungsprogramm für die Schweiz“ in Auftrag gegeben. Sie stellte unter dem Eindruck der erneut krisenhaften Entwicklung der Schweizer Wirtschaft die Sicherung der Arbeitsplätze durch sinnvolle Investitionen und Förderprogramme in den Vordergrund, wobei zwei Drittel der Mittel in den Schwerpunktbereich Energie fliessen und angesichts der be- ginnenden Diskussion über den Klimawandel einen Kurswechsel in Richtung „zweite solare Zivi- lisation“ einleiten sollten. Die Studie bezog sich entsprechend dem erweiterten Organisations- bereich der GBI auf die Gesamtwirtschaft und nicht nur auf den Sektor Bau.

Nachhaltige Wirkung in- und ausserhalb der Gewerkschaft  Für die Diskussion innerhalb der Gewerkschaften war das Programm von 1983 wichtig, da es aufzeigen konnte, dass Beschäftigungssicherung und eine ökologische, nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft nicht unbedingt Gegensätze, sondern miteinander vereinbar sind. Nach der Jahrtausendwende gehörte es dann fast zum guten Ton, eine grüne Wirtschaft zu propagieren, nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch – teilweise unkritisch – seitens diverser Parteien und Regierungen.

Das Programm von 1983 und die folgenden waren aber auch wichtig für die Diskussion innerhalb der Linken. Staatliche Investitionsprogramme zur Schaffung von Arbeitsplätzen wurden von links und von der Frauenbewegung lang und teilweise zu Recht dafür kritisiert, dass sie einseitig nicht nur die Betonierung der Schweiz fördern, sondern auch vor allem die Arbeitsplätze der Männer sichern würden. Die Studie von 1995 nahm diese Diskussion auf und hatte dann auch Einfluss auf die zwei Investitionsprogramme des Bundes in den 1990er Jahren, welche die steigende Arbeitslosigkeit bekämpfen sollten.

Diese „keynesianischen“ Programme wurden damals gegen den Widerstand neoliberaler Kreise durchgesetzt, die deren Nutzen bezweifelten. Sie beinhalteten ausschliesslich die Sanierung und nicht den Neubau von Gebäuden und umfassten auch Sektoren mit einer hohen Frauenbeschäftigung, wie den Bildungssektor und die Kinderbetreuung.

All dies müsste heute in Hinblick auf eine klimaneutrale Wirtschaft und carbonfreie Produktion wieder aufgegriffen werden. Wie lassen sich eine neue Klimapolitik verbinden mit sozialer Gerechtigkeit, mit einem Ausbau des Care-Sektors, mit einer gerechteren Verteilung des Wohlstandes in der Welt? Um zu vermitteln, dass dies möglich ist und entsprechende Perspektiven aufzuzeigen, braucht es eine starke Bewegung, die von der Klimabewegung inspiriert ist, aber weit über sie hinausgehen muss. Dabei können und sollen Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen. So wie sie es in der Vergangenheit getan haben.

Dieser Text erschien in Denknezt-Jahrbuch 2019

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Gleichheitsmonitor 2019

10 Jahre Verteilungsbericht

Dieses Jahr veröffentlichte das Denknetz keinen Verteilungsbericht, sondern nur einen kurzen Kommentar zum Gleichheitsmonitor. Dies weil Ende letztes Jahr der Schweizerische Gewerkschaftsbund einen ausführlichen Verteilungsbericht herausgegeben hat[1] und seither nur noch wenige neue Daten zur Einkommens- und Vermögensverteilung verfügbar gemacht wurden.  Zudem möchte das Denknetz den jährlichen Verteilungsbericht auf eine neue Basis stellen und hat dazu eine Arbeitsgruppe eingesetzt.  

Zwei Jahre Lohnabbau bei steigenden Gewinnen Zwar konnten die Gewerkschaften für die Jahre 2017 und 2018 noch geringe Lohnerhöhungen aushandeln, im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige erhöhten sich die Löhne 2017 und 2018 aber nur um knapp ein Prozent. Da die Teuerung in den zwei Jahren 1.4 Prozent betrug, resultierte für die Arbeitnehmenden zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Kaufkraftverlust. In den Jahren zuvor war das noch anders: Eine negative Teuerung sorgte dafür, dass die Kaufkraft leicht zunahm. Zwischen den Branchen gibt es allerdings deutliche Unterschiede. In der Industrie weist allein die Chemie- und Pharmabranche eine positive Lohnentwicklung auf. Überdurchschnittlich sind die Kaufkraftverluste im Metallgewerbe sowie der Uhren- und Maschinenindustrie. Von den Dienstleistungsbranchen schneidet neben dem Finanzsektor der Detailhandel am besten ab.    Die Gewinner der letzten zwei Jahre waren eindeutig die Unternehmen. Die Nettogewinne der Unternehmen stiegen laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung von rund 113 Milliarden Franken im Jahr 2016 auf über 124 Milliarden im letzten Jahr. Das ist ein Zuwachs von fast 10 Prozent. Die Verteilung des Wohlstands hat sich also deutlich von der Arbeit zum Kapital verschoben. Dies zeigt sich auch an der Verteilungsbilanz, wo die reale Lohnentwicklung mit der Arbeitsproduktivität verglichen wird. Gemäss dieser Bilanz sind rund vier Prozent des in der Schweiz erarbeiteten Volkseinkommens von den Arbeitnehmenden zu den Unternehmen bzw. Kapitalbesitzern geflossen, deutlich mehr als in den zwei Jahren zuvor wegen der stagnierenden Gewinne in die umgekehrte Richtung. In der Lohnquote hat sich dies übrigens kaum niedergeschlagen, sie ist relativ konstant geblieben. Der Hauptgrund ist, dass für die Lohnquote Gewinne und Arbeitseinkommen aus dem Ausland hinzu und Einkommen an das Ausland abgezogen werden. Da vor allem die Gewinne und Vermögenseinkommen aus dem Ausland abgenommen haben, hat der Anteil der Löhne am Bruttonationaleinkommen sich nur leicht vermindert.   

Stagnierende Arbeitslosigkeit, mehr Armut Wie letztes Jahr müssen wir feststellen, dass sich der Reichtum zunehmend an der Spitze der Gesellschaft konzentriert und gleichzeitig die Armut zunimmt. Trotz anziehendem Wirtschaftswachstum und zunehmender Beschäftigung ist die Erwerbslosenquote 2018 mit 4.7 Prozent fast gleich hoch geblieben. Gleich hoch geblieben ist auch die Sozialhilfequote. Die Unterbeschäftigungsquote hat bei den Frauen in den letzten zwei Jahren sogar zugenommen. Das gleiche gilt für die Armutsgefährdung von Erwerbstätigen, die 2017 sogar sehr deutlich angestiegen ist (für 2018 gibt es noch keine Zahlen). Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich übrigens, wenn man die Kennziffern des letzten oder vorletzten Jahres mit 2008 vergleicht. Die Erwerbslosigkeit, die Unterbeschäftigung und die Sozialhilfequote hat in diesen 10 Jahren sehr deutlich zugenommen. Die Armutsgefährdung hat nach 2008 zuerst abgenommen und ist dann wieder praktisch auf das Niveau von 2008 angestiegen. Wahrlich kein Ruhmesblatt für die «reiche Schweiz». 

Hier geht es zum Gleichheitsmonitor 2019.

Dieser Artikel erschien im Denknetz-Jahrbuch 2019   

      [1] Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB: Verteilungsbericht 2018. Bern.

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Viele Frauen wollen mehr (Lohn-)arbeit

Während die Schweiz punkto Erwerbslosigkeit mit 4,7 Prozent immer noch relativ gut abschneidet, sieht es bei der Unterbeschäftigung ganz anders aus. Als unterbeschäftigt gelten jene Personen, die in einem Teilzeitpensum sind, aber eigentlich mehr arbeiten möchten. Dies sind zu einem grossen Teil Frauen. Mit 7 Prozent (Frauen 10,8 Prozent) hat die Schweiz die höchste Unterbeschäftigungsquote in Europa. Im EU-Durchschnitt sind es nur 3,4 Prozent.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, Schweiz. Arbeitskräfteerhebung (SAKE))

STILLE RESERVE. Insgesamt waren 2018 in der Schweiz 587’000 Personen erwerbslos oder unterbeschäftigt. Hinzu kommen 243’000 Personen der sogenannten stillen Reserve. Das sind insbesondere Menschen, die aus verschiedenen Gründen keine Arbeit ­suchen, aber eigentlich für den ­Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Auch hier gibt es mehr Frauen als Männer. Als Ursache werden am häufigsten ­«familiäre Gründe» angegeben. Weiterbildung oder die Hoffnungslosigkeit, je wieder eine Stelle zu finden, sind ­andere Gründe. Dazu braucht es allerdings eine wichtige Fussnote: Die Statistik befasst sich an dieser Stelle nur mit Erwerbsarbeit. Bekanntlich werden in der Schweiz etwa gleich ­viele Stunden Gratisarbeit geleistet wie Lohn­arbeit. Besonders viele «unterbeschäftigte» Frauen arbeiten in Tat und Wahrheit ganz viel, indem sie Kinder betreuen, alte Menschen pflegen oder Hausarbeit leisten. Der Wunsch vieler wäre aber, mehr auf ­ihrem Beruf tätig zu sein und einen ­ordentlichen Lohn für ihre Arbeit zu bekommen. Insgesamt gibt es also rund 830’000 Personen, die in der Schweiz erwerbslos und unterbeschäftigt sind oder der sogenannten stillen Reserve angehören. Das sind 17 Prozent der Erwerbsbevölkerung!

RIESIEGES POTENTIAL. Diese Zahl steht im Widerspruch zu den Befürchtungen, dass es immer weniger Erwerbstätige durch Überalterung gebe und deshalb unsere Sozialwerke bedroht seien. 830’000 Menschen sind ein riesiges Potential. Würde auch nur ein Teil dieser Reserve ausgeschöpft, wäre die AHV gesichert, und wir be­nötigten weder ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent noch eine ­Erhöhung des Frauenrentenalters. Mit einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zum Beispiel durch bezahlbare Krippen und Tagesschulen, könnten bereits ein grosser Teil der «unter­beschäftigten» Personen wieder einem bezahlten Beruf nachgehen oder ihr Pensum erhöhen.

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