Einkommens- und VermögensverteilungLohn und Profit
Dies ist einer der Schwerpunkte meiner Arbeit. Die Verteilung des Reichtums in einem Land und auf der Welt entscheidet darüber, wer in einem angemessenen Wohlstand leben kann oder in Armut leben muss. Eine immer ungleichere Verteilung hat nicht nur Konsequenzen für die Lebensbedingungen der weniger Privilegierten. Es bedeutet auch eine immer ungleichere Machtverteilung und gefährdet damit die Grundrechte. Eine funktionierende Demokratie setzt eine gewisse Gleichheit voraus.
Adam Smith in “Wealth of Nations”
“Damit einer reicher werden kann, müssen 500 arm bleiben und ohne die Polizeigewalt Ihrer Majestät könnte er sich nicht furchtlos schlafen legen.”
(Adam Smith, 1723-1790, war der Begründer der klassischen Nationalökonomie)
15 Jahre Denknetz-Gleichheitsmonitor
Genderungleichheit in der Schweiz nach wie vor sehr gross
Robert Fluder, Hans Baumann, erschienen in Denknetz-Zeitung Mai 2024
Während bei Bildung oder Gesundheit die Unterschiede zwischen Frauen und Männern weniger markant sind, zeigen sich bei der Verteilung der finanziellen Ressourcen nach wie vor riesige Unterschiede. Die finanziellen Ressourcen bestimmen darüber, wie gut eine Person den täglichen Bedarf abdecken und welches Wohlfahrtsniveau sie sich leisten kann. Sie eröffnen Handlungsmöglichkeiten und sind eine wichtige Grundlage für Macht und Einfluss. Sie verweisen damit auf die sozialstrukturelle Position in einer Gesellschaft. Im folgenden Beitrag beleuchten wir einen Aspekt des Gleichheitsmonitors, der seit 15 Jahren vom Denknetz veröffentlicht wird. Wir zeigen wie gross die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Männern und Frauen in der Schweiz sind. Im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern belegt die Schweiz einen der hintersten Ränge.
Der Gesamtunterschied der Erwerbseinkommen von Frauen und Männern wird von Eurostat mit dem Gender Overall Earnings GAP (GOEG) gemessen. Der GOEG ist abhängig vom Stundenlohn, der geleisteten Arbeitszeit und der Erwerbsbeteiligung. 2018 betrug er in der Schweiz 43 Prozent, was bedeutet, dass das gesamte Erwerbseinkommen der Frauen um 43 Prozent geringer war als jenes der Männer.[i] Die Hälfte davon ergibt sich aus geringeren Erwerbsarbeitsstunden und knapp ein Drittel aus den tieferen Löhnen der Frauen. Im Vergleich mit den EU-Ländern belegt die Schweiz zusammen mit den Niederlanden, Österreich und Italien dabei die letzten Ränge, vor allem wegen dem grossen Unterschied bei der Erwerbsarbeitszeit, der mit Ausnahme der Niederlande in keinem Land so gross ist wie in der Schweiz. Aber auch der Lohnunterschied ist in der Schweiz nach Estland und Österreich am grössten. Die aus dem GOEG resultierende Einkommenslücke schätzt die Ökonomin Madörin auf insgesamt 100 Milliarden Franken.[ii]
Je höher die Einkommen, desto grösser die Geschlechter-Ungleichheit
Um neben dem Erwerbseinkommen die gesamten finanziellen Ressourcen berücksichtigen zu können, wurden an der Berner Fachhochschule die Unterschiede von Frauen und Männern beim Gesamteinkommen und dem Vermögen untersucht.[iii] Bei Personen im Erwerbsalter beträgt das Medianeinkommen der Frauen nur 57 Prozent des Einkommens der Männer. Wird die Einkommenspyramide betrachtet, so sind Frauen hauptsächlich bei den tiefen Einkommen vertreten: Bei der unteren Hälfte sind zwei Drittel Frauen, während bei den obersten 10 Prozent der Frauenanteil nur 20% beträgt. Dies widerspiegelt die Ungleichheiten am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Frauen arbeiten häufiger in schlecht bezahlten Berufen, in Tieflohnbranchen, auf tiefen Positionen und in Teilzeitstellen. Aber auch bei gleichem Beruf, gleicher beruflicher Stellung, gleichem Ausbildungsniveau und Dienstalter bleibt eine unerklärte Lohndifferenz von 8,6 Prozent. Anhand des Denknetz-Gleichheitsmonitors zeigt sich, dass sich diese Lohndiskriminierung in den letzten 10 Jahren nicht wesentlich verändert hat.[iv]
Und wie steht es bei den Altersrenten? Wird das gesamte Einkommen der Rentner:innen berücksichtigt, so kommen Frauen nur auf 58 Prozent des Einkommens der Männer. Bei den Renten (inkl. Kapitalzahlen der 2. und 3. Säule) beträgt der Unterschied 37 Prozent, wobei dieser ausschliesslich durch die zweite und teilweise die dritte Säule zustande kommt, während bei den AHV-Renten praktisch keine Unterschiede bestehen. Dies widerspiegelt die unterschiedlichen Erwerbsbiografien von Frauen und Männern. Die Einkommen im Erwerbsalter und im Rentenalter unterscheiden sich deshalb ähnlich stark.
Haushalte mit mehreren Personen funktionieren meist als wirtschaftliche Einheit, womit die Wohlfahrt nicht vom individuellen, sondern vom Haushaltseinkommen abhängt. Wird das Haushaltseinkommen betrachtet, so sind die Unterschiede wesentlich geringer. Bei Personen im Erwerbsalter beträgt der Median der Frauen in Prozent des Medians der Männer 96,8 und im Rentenalter 93,2 Prozent. Das geringere Einkommen der Frauen wird dabei durch ein höheres Einkommen der Männer kompensiert. Ein grosser Teil der individuellen Einkommensunterschiede entsteht somit durch das Aufteilen von Haushalts-/ Betreuungsarbeit und Erwerbsarbeit. Zusammen genommen arbeiten Frauen wöchentlich etwas mehr als die Männer, sie leisten aber 66 Prozent der Arbeit als unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit und nur 34 Prozent als Erwerbsarbeit. Bei den Männern ist es gerade umgekehrt. Bei Trennungen kann diese Aufteilung zu einer zusätzlichen einkommensmässigen Benachteiligung von Frauen führen.[i]
[i] Fluder Robert, Kessler Dorian, Schuwey Claudia (2024): Scheidung als soziales Risiko. Analyse zu den institutionellen Rahmenbedingungen und den geschlechtsspezifischen Folgen von Ehetrennungen in der Schweiz. Seismo 2024.
[i] Schweizerische Eidgenossenschaft (2022): Erfassung des Gender Overall Earnings Gap und anderer Indikatoren zu geschlechterspezifischen Einkommensunterschiede.
[ii] Madörin Mascha (2018): Die kleingerechnete Ungerechtigkeit. Neue Zahlen zu den Einkommenslücken zwischen den Geschlechtern. In: Widerspruch 71/18, S. 117ff.
[iii] Die Daten stammen aus dem SNF-Projekt «Inequality, poverty risks and the welfare state» (SNF-Projekt 178973). Genutzt werden Steuerdaten der Kantone Aargau, Bern, Luzern, St. Gallen, Wallis und Genf, die mit Bevölkerungs- und Sozialleistungsdaten verknüpft sind. Vgl. Hümbelin Oliver, Fluder Robert, Lehmann Oliver (2023): Geschlechterunterschiede bei Einkommen und Vermögen. In: Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (2023). Zeitschrift Frauenfragen, 14 – 23.
[iv] Basierend auf einer Vollzeitstelle verdienen Frauen 18% weniger als Männer, wovon 52% durch objektive Faktoren erklärt werden können und 48% unerklärt bleiben, d.h. 8.6% der Lohndifferenz ist unerklärt. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann/einkommen.html (abgerufen am 30.1.2024).
Geschlechteranteile nach Position in der Einkommensverteilung
Bei den Allerreichsten wenig Frauen
Obwohl das Vermögen in der Schweiz ausgesprochen ungleich verteilt ist, gemäss Gleichheitsmonitor verfügt das reichste Prozent der Bevölkerung über 47 Prozent aller Vermögen, sind geschlechtsspezifische Wohlstandsunterschiede beim Vermögen weniger ausgeprägt. Dies weil Vermögen von Verheirateten bei den verwendeten Daten nicht pro Person vorliegen und deshalb hälftig der Partnerin und dem Partner zugewiesen werden. Zudem nehmen die Vermögen im Lebensverlauf erst ab ca. 50 Jahren substanziell zu, die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Vermögen vergrössern sich nach dem Pensionierungsalter. Die geringeren Unterschiede beim Vermögen nach Geschlecht ergeben sich auch deshalb, weil jeder zweite Vermögensfranken aus einer Erbschaft stammt und angenommen werden kann, dass Männer und Frauen zu ähnlichen Teilen von Erbschaften profitieren. Werden jedoch nur die 41 Superreichen in der Schweiz gemäss der Forbes-Liste betrachtet, so sind die Unterschiede eklatant: nur 22 Prozent davon sind Frauen.
Fazit: Noch viel zu tun
Ein grosser Teil der ungleichen Verteilung der finanziellen Ressourcen zwischen den Geschlechtern entsteht durch die unterschiedliche Aufteilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit. Mehr als die Hälfte aller Arbeit ist Sorge- und Versorgungsarbeit und der grösste Teil davon wird unbezahlt von Frauen geleistet und der bezahlte Teil ist oft schlecht bezahlt und erfolgt in prekären Anstellungsbedingungen.[i] Um dies zu verändern, braucht es vermehrt genügend attraktive und für alle Einkommensschichten bezahlbare Betreuungsplätze für Kinder in allen Regionen und genügend qualifizierte Teilzeitstellen mit ausreichender Karrieremöglichkeiten für Frauen undMänner, welche für beide eine angemessene Teilnahme an der Betreuung und gleichzeitig angemessene Erwerbschancen ermöglicht. Ein wichtiger Ansatz ist auch die deutliche Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit, um Männern und Frauen zu ermöglichen, dass sich beide aktiv in Betreuung und Haushalt engagieren können. Zudem müsste die hauptsächlich von Frauen geleistete Sorge- und Versorgungsarbeit neu bewertet werden.
15 Jahre Gleichheitsmonitor
Im ersten Denknetz-Jahrbuch 2005 entwickelten Rita Soland, Adi Zimmermann und Hans Baumann die Idee eines Gleichheitsmonitors. Anhand von jährlich nachgeführten Indikatoren sollte die Entwicklung der Ungleichheit in der Schweiz verfolgt werden. Seit 2010 wird diese Indikatorenreihe mit Schwerpunkt auf die materielle Ungleichheit im Jahrbuch und auf der Denknetz-Webseite zusammen mit einem Verteilungsbericht oder einem Kommentar publiziert. Dieses Indikatorenset wurde regelmässig erweitert etwa um die Steuersätze hoher Einkommen und von Unternehmen oder um die Ungleichheit bezüglich des CO2-Fussabdrucks. Fester Bestandteil des Gleichheitsmonitors waren seit Beginn auch Kennzahlen zur Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und bezüglich Einkommen. Der neue Gleichheitsmonitor erscheint im Denknetz-Jahrbuch 2024 und ist ab sofort auf www.denknetz.ch abrufbar.
[i] Mascha Madörin (2019): Zählen was zählt. Sorge- und Versorgungswirtschaft als Teil der Gesamtwirtschaft. Tab. 3. In: Knoblauch Ulrike (Hrsg.). Ökonomie des Versorgens. Beltz Juventa.
IMMER MEHR REICHTUM FÜR WENIGE
Corona, Krieg und Inflation verstärken Ungleichheit
Hans Baumann, Robert Fluder
1.12.2022 | Der neue Gleichheitsmonitor des Denknetzes zeigt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich auch in den letzten Jahren geöffnet hat. Die Corona-Pandemie und die durch Krieg und Spekulation verursachte Inflation scheinen die Ungleichheit noch zu verstärken.
In den letzten Jahrzehnten zeigt sich eine Tendenz der zunehmenden Ungleichheit: Reiche werden immer reicher und gleichzeitig verfügt ein Teil der Bevölkerung nicht ausreichend über lebenswichtige Güter und Dienstleistungen. Gemäss dem jüngsten OECD-Bericht ist die Bevölkerung in vielen Ländern zunehmend besorgt ob der steigenden Ungleichheit.1 Anlass dazu ist das enorme Wachstum der obersten Einkommen und Vermögen, während gleichzeitig ein zunehmender Teil der Bevölkerung der unteren Einkommenssegmente abgehängt wird. Das gilt auch für die Schweiz. Die Corona-Pandemie und die jüngsten, durch den Krieg in der Ukraine verursachten Preissteigerungen für Energie und lebenswichtige Güter drohen die Ungleichheit weiter zu verschärfen.
Quelle
World Inequality Database, Vorsteuereinkommen erwachsener Personen, Daten für die Schweiz vor 1980 teilweise durch eigene Berechnungen ergänzt.
Quellen/Erläuterungen
ESTV, Steuerbelastung nat. Personen in den Kantonshauptorten, Kantons-, Gemeinde und Kirchensteuer. Hinzu kommt die Bundessteuer.
KPMG, Corporate Tax Surveys: Durchschnittlicher, ordentlicher Gewinnsteuersatz aller Kantonshauptorte
Lohnabhängige verlieren
Die Reallöhne in der Schweiz stagnieren seit Jahren. Sie erhöhten sich in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt noch um 0,7 Prozent2, wobei tiefere Löhne noch schlechter abschnitten und praktisch keine Erhöhung mehr erfuhren. Die oberen Einkommensgruppen hielten sich demgegenüber schadlos und konnten ihre Reallöhne um vier Prozent und mehr erhöhen.3Ganz schlecht sah es im letzten Jahr aus. 2021 gingen sogar die Nominallöhne zurück. Nur die in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegten Löhne wurden leicht erhöht. Für 2022 sind noch stärkere Lohnverluste zu erwarten.
Im Gegensatz zu den Löhnen nahm die Arbeitsproduktivität der Schweizer Wirtschaft stetig zu, sogar in den Corona-Jahren. 2021 wuchs auch das Bruttoinlandsprodukt wieder kräftig. Seit mehreren Jahren hinken die Löhne somit deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung her. Allein in den letzten fünf Jahren macht der Rückstand der Löhne 6.4 Prozent aus! In diesem Ausmass hat sich die Verteilung von den Löhnen zu den Unternehmensgewinnen verschoben.
Quelle
Lohnindex BfS, Arbeitsproduktivität nach tatsächlichen Arbeitsstunden, BfS
Erläuterung
Verteilungsbilanz = Entwicklung Reallöhne minus realer Arbeitsproduktivität: Ein negativer Wert bedeutet, dass die Löhne hinter der Arbeitsproduktivität herhinken, ein positiver, dass sie sie übersteigen.
Quelle
BfS, Lohnstrukturerhebung LSE , Erhebung über die Einkommen und die
Lebensbedingungen, SILC.
Erläuterung
Oberstes Dezil: 90 Prozent aller Löhne liegen darunter, 10 Prozent darüber.
Unterstes Dezil: 10 Prozent aller Löhne liegen darunter, 90 Prozent darüber.
Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf Einzelpersonen umgerechnetes Haushaltseinkommen. S80/S20 = Verhältnis des Einkommens der reichsten 20 zu den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung.
Inflation trifft tiefe Einkommen stärker
In den Corona-Jahren sind die Einkommen durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit bei Lohnabhängigen und durch Erwerbsausfall bei Selbstständigen gesunken. Nur teilweise konnte dies durch die Erwerbsausfallentschädigungen von Bund, Kantonen und durch die Arbeitslosenversicherung ausgeglichen werden. Aktuell werden die Löhne durch die Preissteigerungen infolge des Ukraine-Krieges bedroht. Bis zum August betrug die Inflationsrate 3,5 Prozent. Haushalte mit tieferen Einkommen sind von den steigenden Konsumentenpreisen stärker betroffen als hohe Einkommen. Der Grund: Personen mit wenig Einkommen müssen einen grösseren Teil ihres Einkommens für den täglichen Gebrauch und für Wohnen ausgeben, also für Nahrungsmittel und Getränke sowie Miete und Energiekosten. Gerade diese Preise sind seit Jahresfrist stärker gestiegen als etwa die Preise für Bekleidung, Möbel und Luxusgüter. Eine britische Untersuchung zeigt auf4, wie gross diese Unterschiede je nach Einkommensgruppe sind. Umgerechnet auf die schweizerische Situation sind die Haushalte in mittleren Einkommensgruppen bei ihren Konsumausgaben mit einer Teuerung von 3,5 bis 3,7 Prozent konfrontiert. Die tiefen Einkommen verlieren mit 3,8 bis 4,2 Prozent Teuerung deutlich mehr Kaufkraft, während beim Zehntel mit den höchsten Einkommen, aufgrund ihres spezifischen Warenkorbes, die Teuerung nur 3,1 Prozent beträgt. Dazu kommt, dass die unteren Einkommensgruppen das gesamte Einkommen für den Konsum verwenden müssen, während dies bei den oberen Einkommen nur einen Teil des Einkommens betrifft. Die im Durchschnitt um 27 Prozent angestiegenen Strompreise und die im nächsten Jahr steigenden Krankenkassenprämien um 6,6 Prozent werden den Druck auf die Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen weiter erhöhen.
In den letzten Jahrzehnten zeigt sich eine Tendenz der zunehmenden Ungleichheit: Reiche werden immer reicher und gleichzeitig verfügt ein Teil der Bevölkerung nicht ausreichend über lebenswichtige Güter und Dienstleistungen. Gemäss dem jüngsten OECD-Bericht ist die Bevölkerung in vielen Ländern zunehmend besorgt ob der steigenden Ungleichheit.1 Anlass dazu ist das enorme Wachstum der obersten Einkommen und Vermögen, während gleichzeitig ein zunehmender Teil der Bevölkerung der unteren Einkommenssegmente abgehängt wird. Das gilt auch für di. Die Corona-Pandemie und den, durch den Krieg in der Ukraine verursachten Preissteigerungen für Energie und lebenswichtige Güter drohen die Ungleichheit weiter zu verschärfen.
Ungleichheit und Armutsgefährdung
Wie in fast allen Ländern hat sich auch in der Schweiz die Schere zwischen hohen und tiefen Einkommen in den letzten Jahrzehnten geöffnet. Insbesondere zwischen 1990 und 2010 hat die Ungleichheit zugenommen. Während der Einkommensanteil der Hälfte der Bevölkerung mit tiefen und mittleren Einkommen seit 1992 von 24,1 auf 22,3 Prozent gesunken ist, steigerte das reichste Zehntel seinen Anteil von 29,6 Prozent auf 32,6 Prozent.
Im gleichen Zeitraum hat das allerreichste Prozent der Bevölkerung noch stärker zugelegt als die oberen 10 Prozent der Einkommensbezüger:innen. Es steigerte seinen Anteil nämlich von 9,6 auf 11,5 Prozent.
Für das erste Pandemiejahr 2020 gibt es erste Hinweise auf eine weitere Zunahme der Ungleichheit. Dies betrifft einerseits die Löhne: Hier konnten die obersten 10 Prozent der Lohnbeziehenden ihren Anteil sowohl im Vergleich mit den untersten wie auch den mittleren Lohngruppen weiter erhöhen. Aber auch beim verfügbaren Einkommen, also dem Einkommen nach allen Abzügen wie Steuern und Krankenkassenprämien, ist die Schere wieder auseinandergegangen.5
Die gegenwärtige Teuerung und die noch kommenden Preissteigerungen werden nicht nur die Ungleichheit verstärken, sondern auch vermehrt Personen in Schwierigkeiten bringen, weil ihr Einkommen heute schon kaum das Existenzminimum zu decken vermag. Fast die Hälfte der Haushalte besitzen zudem kaum Reserven in Form von Vermögen oder sind gar verschuldet, während das reichste Prozent seinen Anteil am Vermögenskuchen enorm steigern konnte.6 Bereits heute ist jede siebte Person von Armut betroffen oder bedroht. Die Warnungen von Expert:innen, die für die kommenden Jahre einen Anstieg der Armutsgefährdung und der Sozialhilfefälle voraussagen, sind deshalb ernst zu nehmen.7 Die öffentliche Hand, aber auch die Sozialpartner haben eine grosse Verantwortung und müssen Massnahmen ergreifen, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Eine rasche Unterstützung etwa in Form des Senkens der Heizkosten, des Senkens der Krankenkassenprämie oder einer Einmalzahlung an alle Haushalte, wie beispielsweise in Österreich8, kann die Armutsgefährdung wirksam bekämpfen. Gleichzeitig sind die Gewerkschaften gefordert, Reallohnerhöhungen durchzusetzen oder mindestens die Teuerung auszugleichen. Dabei müssten Lohnanpassungen der Tatsache Rechnung tragen, dass die tieferen Einkommen stärker von der Teuerung betroffen sind. Eine stärkere Anhebung der Mindestlöhne und/oder eine generelle Lohnerhöhung mit einem einheitlichen Sockelbetrag sind in dieser Situation wichtiger denn je.
Quelle
World Inequality Database, Vorsteuereinkommen erwachsener Personen
Quellen
World Inequality Database (Nettovermögen pro Person), ESTV (Reinvermögen Steuerzahlende ohne PK-Ansprüche), Eigene Berechnungen
Quellen
BfS SAKE, Sozialhilfestatistik, Statistik über Armut und materielle Entbehrung (SILC)
Zu den Personen: Hans Baumann ist Ökonom, Publizist und Autor. Robert Fluder ist Dozen und Projektleiter an der Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit, im Schwerpunkt Soziale Sicherheit und Sozialpolitik.
Fussnoten
1. OECD: Does Inequality Matter? How People Perceive Economic Disparities and Social Mobility, 2021
2. Gleichheitsmonitor, Denknetz-Jahrbuch 2022, www.denknetz.ch
3. Medienkonferenz SGB vom 20.4.2022
4. Karjalainen, Heidi/Levell, Peter: Inflation for poorest households likely to increase even faster than for the richest, and could hit 14% in October; Institute for Fiscal Studies, Press Release, 25.5.2022
5. Gleichheitsmonitor, Denknetz-Jahrbuch 2022. Das Verhältnis der obersten 20 Prozent der Einkommensbeziehenden zu den untersten 20 Prozent ist 2020 von 4,5 auf 4,7 gestiegen.
6. Baumann, Hans/Farys, Rudolf/Fluder, Robert: Immer mehr Reichtum für Wenig, Caritas-Sozialalmanach 2023 (i.E.).
7. So z.B. der Caritas-Direktor Lack
8. Ab Oktober erhalten alle Österreicher:innen einen «Klimabonus» als Kompensation für die gestiegenen Energiepreise und die CO2-Abgabe, die ab Oktober 2022 eingeführt wird; www.klimabonus.gv.at
Eine Solidaritätsabgabe auf hohen Vermögen
Zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Krisen schlagen wir eine Solidaritätsabgabe auf hohen Vermögen vor. Diese Abgabe betrifft nur wenige hohe Vermögen und soll der öffentlichen Hand rund 40 Milliarden Franken zur Krisenbewältigung und Zukunftsprojekte einbringen.
Mit der Klima- und der Coronakrise sind wir in eine neue Epoche eingetreten. Wir auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit Krisen konfrontiert, aus denen es kein Zurück zum Zustand vor den Krisen mehr geben wird. Klimaerhitzung, wirtschaftliche Turbulenzen, Pandemien, Einbrüche in der Nahrungs- und Wasserversorgung, politische und soziale Verwerfungen usw. verbinden sich zu Problemlagen, die uns fundamental herausfordern. Die Eindämmung und die Bewältigung dieser Krisen lösen einen enormen öffentlichen Finanzbedarf aus. Zum Beispiel müssen wir mit der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft rasche Fortschritte machen, damit der Klimawandel so gut wie noch möglich eingedämmt werden kann. Es geht aber auch – und in zunehmendem Masse – um die Bewältigung der Folgen der Klimaerhitzung, z.B. in den Bereichen Hochwasser, Schutz vor Extremhitze, Umstellungen in der Landwirtschaft, Schutz vor den Folgen des Auftauens von Permafrost in den Bergen usw.. Und ebenso braucht es ein hohes Engagement, um armen Ländern bei der Krisenbewältigung unter die Arme zu greifen. Zur Beschaffung der finanziellen Ressourcen braucht es Sondersteuern, wie sie in der neueren Geschichte in Krisenzeiten schon wiederholt erhoben worden sind. Im folgenden präsentieren wir den Vorschlag einer Solidaritäts-Vermögensabgabe. Sie verbindet die Mittelbeschaffung mit einer Rückverteilung von Vermögenswerten von oben nach unten, also aus den spekulativ geladenen Finanzmärkten in die Nützlichkeitszonen der Gesellschaft, und trifft damit zwei Fliegen auf einen Schlag.
Gegenwärtig sind die hohen privaten Vermögen in der Schweiz ein enormes und nur wenig genutztes Steuerpotential. So ist das Reinvermögen in der Schweiz in den letzten Jahren massiv angestiegen, insbesondere auch im Vergleich zur Entwicklung bei den Einkommen. Pro Kopf betrug das Vermögen im Jahr 2019 durchschnittlich CHF 460‘000.- und lag damit zwei bis drei Mal über dem Durchschnitt der Nachbarländer (Annaheim & Heim 2021). Der Durchschnitt sagt jedoch nicht viel aus, denn diese Vermögen sind überaus ungleich verteilt. So verfügen alleine schon die 0.3% Reichsten über fast ein Drittel aller Vermögenswerte (30.9%). Während sich die Vermögen über eine längere Periode ähnlich entwickelten wie die Einkommen, sind sie in den letzten 20 Jahren deutlich stärker angestiegen. Heute entspricht gemäss Baselgia und Martinez (2020) das private Vermögen in der Schweiz dem 7.4-fachen des Nationaleinkommens.
Vermögensabgaben sind in der Geschichte der letzten hundert Jahre wiederholt erhoben worden. Sie sind also ein «klassisches» Instrument, um Mittel zur Bewältigung aussergewöhnlicher Krisen zu beschaffen.
Folgendes sind die Eckwerte des Modells: Erhoben werden soll die Abgabe auf Vermögensanteile, die über einer hohen Freigrenze von fünf Millionen CHF liegen. Die Abgabe soll während mindestens zehn Jahren geschuldet sein. Der jährliche Steuersatz soll bei drei, vier und fünf Prozent liegen, progressiv abgestuft nach der Höhe des Gesamtvermögens. Der geschätzte Ertrag einer solchen Abgabe beläuft sich über die gesamten zehn Jahre auf CHF 400 Mrd (40 Mrd pro Jahr). Die Ausrichtung der Abgabe auf hohe Vermögensanteile ist gut begründet, wie wir im Text genauer ausführen werden. Unter anderem ist es gerade ja die Dynamik der gesteigerten Profite und Vermögenserträge, die erheblich zur Verschärfung diverser Problemlagen beigetragen hat (Klimaerhitzung, verschärfte Standortkonkurrenz und zunehmender Steuerwettbewerb nach unten, wachsende soziale Spannungen). Ein Korrektur dieser ungleichen Verteilung des Reichtums dämpft also auch diese Dynamik.
Sonder-Vermögensabgaben sind unserer Auffassung nach keine Alternative zu permanenten Steuern, sondern eine Ergänzung im Hinblick auf die Bewältigung ausserordentlicher Krisen. In solchen Krisen fallen sehr hohe Ausgaben an, und entsprechend nimmt auch der öffentliche Mittelbedarf sprunghaft zu. Eine Sondersteuer muss für solche ausserordentliche Ausgaben konzipiert sein, nicht für regelmässige Ausgaben (für die es eben auch regelmässige Einnahmen braucht). Eine Sondersteuer kann zudem rasch realisiert werden, weil sie ausserhalb des oft komplexen Gefüges der gegebenen steuerlichen Regelungen konzipiert ist. Gerade in Krisenzeiten ist es dabei besonders angezeigt, sozial ausgleichende Sondersteuern zu erheben. Krisen treffen in aller Regel in die weniger begüterten Leute stärker als die Reichen; überdies erweisen sich viele Reiche oft als eigentliche Krisengewinnler (wie gerade wieder in der Coronakrise). Mit einer Vermögensabgabe kann die dadurch nochmals ansteigende materielle Ungleichheit erfolgreich kompensiert werden.
Gleichheitsmonitor 2021:
Einkommen sinken – Vermögenskonzentration nimmt zu
Hans Baumann/Robert Fluder
Die Corona-Krise hat Gesellschaft und Wirtschaft durcheinandergewirbelt. Bisherige Selbstverständlichkeiten wurden in Frage gestellt und neue Verhaltensweisen und Normen etabliert. Mit der Pandemie wurde Ungleichheit noch deutlicher sichtbar.
Je nach Umfeld und Bedingungen konnten sich Personen besser vor dem Virus schützen. Häufig waren es gerade die schlechter Gestellten, wie Angestellte im Verkauf, Reinigung oder Pflegebereich, welche einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren und ihre Arbeit nicht ins sichere Homeoffice verlegen konnten. Wie in jeder Krise gibt es Gewinner und Verlierer, auch was die Verteilung von Einkommen und Vermögen angeht. So mussten häufig gerade Haushalte mit niedrigen Einkommen Einbussen erleiden, während Spitzenverdienende und Empfänger von Boni weniger betroffen waren. Auch die Vermögen der Wohlhabendsten konnten während der Krise – abgesehen von einem ersten kurzfristigen Einbruch, noch einmal zulegen. Und in der Krise gehörten ausgerechnet jene Unternehmen zu den Gewinnern, welche bereits in den Jahren vor der Krise ihre Gewinne massiv steigern konnten.
Verteilungsbilanz negativ, viele Einkommen gesunken
Der Gleichheitsmonitor des Denknetzes veröffentlicht seit elf Jahren Indikatoren zur Verteilung (Baumann 2019). Im Monitor 2021 sind die Indikatoren zur Verteilung aktualisiert worden (www.denknetz.ch). Allerdings sind die Indikatoren für das letzte Jahr erst vereinzelt verfügbar Somit kann erst ein unvollständiges Bild der Wirkung der Krise gemacht werden.
Bei der durchschnittlichen Lohnentwicklung der letzten 5 Jahre ergibt sich eine reale Lohnzunahme von 2.6%, was auch eine Folge der geringen und z.T. negativen Teuerung ist. Dieser Lohnentwicklung steht eine Zunahme der Arbeitsproduktivität von 7.2% gegenüber. Damit haben die Unternehmen ungleich mehr von der Wertschöpfungszunahme profitiert und die Verteilungsbilanz hat sich um 4.8% zum Nachteil der Lohnarbeit verschlechtert. 2019 und im Coronajahr 2020 gibt es allerdings nur noch geringe Veränderungen bei der Verteilungsbilanz. Dies zeigt auch eine Schwäche dieser Darstellung auf. Zwar sind die Reallöhne 2020 gestiegen, aber da gleichzeitig die Arbeitslosigkeit und die Kurzarbeit zunahm, ist das verfügbare Einkommen vieler Erwerbstätiger trotzdem gesunken. Ersichtlich wird dies beim Total der geleisteten Arbeitsstunden (Arbeitsvolumen), die 2020 um über 3.7 Prozent abnahmen. Die in der in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesene Lohnsumme ist deshalb 2020 um ein Prozent gesunken. In der Periode unmittelbar nach der ersten Corona Welle mussten zudem die einkommensschwachen Haushalte (unter CHF 4000.- pro Monat) mit 20% kurzfristig einen deutlich stärkeren Einkommensrückgang hinnehmen als solche mit einem hohen Einkommen (über CHF 18’000: – 8%) (Martinez et al. 2021).
Auffallend ist, dass sich der Rückstand der Frauenlöhne in der Periode 2014 bis 2018 wieder leicht erhöht hat. Gleichzeitig haben die unbezahlten Arbeitsstunden, die hauptsächlich von Frauen geleistet werden, in den letzten 5 Jahren um 6.5% zugenommen. Damit hat sich die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern eher wieder verschärft.
Gemäss dem Monitoring der Bank CLER ist das mittlere Haushaltseikommen im Zeitraum von 2007 bis 2017 um 7.1% gestiegen. Dabei hat der Einkommensanteil der Mittelschicht leicht abgenommen (d.h. der Haushalte mit einem Einkommen zwischen 70% und 150% des Medianeinkommens), während die Oberschicht leicht zulegen konnte (CLER 2021). Gemäss Gleichheitsmonitor konnten die reichsten 10 Prozent und das einkommensreichste Prozent ihren Anteil seit den 1990er Jahren deutlich erhöhen, die Ungleichheit bei den Einkommen hat also tendenziell zugenommen.
Mehr Erwerbslose und mehr Arme
Im Lauf der ersten beiden Pandemiewellen nahm die Zahl der Arbeitslosen erheblich zu. Seither sinkt sie wieder. Gleichzeitig nimmt jedoch der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen seit Mitte 2020 immer noch deutlich zu. Die Erwerbslosenquote erhöhte sich im Corona-Jahr von 4.4% auf 4.8%. Seit 2014 nimmt zudem die Armut zu: Die absolute Armutsquote stieg schon 2019 von 6.7% auf 8.7%. Von den Erwerbstätigen waren 4.2% von Armut betroffen. Neuere Zahlen liegen leider nicht vor. Im Corona-Jahr dürfe die Armut jedoch weiter zugenommen haben. Damit öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter.
2019 waren 3.2% der Bevölkerung auf Sozialhilfeleistungen angewiesen. Berücksichtigt man auch die weiteren bedarfsabhängigen Leistungen (z.B. Ergänzungsleistungen, Wohnbeihilfen in einzelnen Kantonen etc.) so waren 9.5% auf staatliche Bedarfsleistungen angewiesen, weil sie ein zu geringes Einkommen für den tägliche Bedarf hatten.
Entscheidend, weshalb Ungleichheit und Armutsgefährdung nicht stärker zugenommen haben, ist die Absicherung der unteren Löhne in den Gesamtarbeitsverträgen, die Einkommenssicherung durch das System der sozialen Sicherheit und die Corona-Massnahmen von Bund und Kantonen. Sehr deutlich hat sich während der Corona Krise gezeigt, wie wichtig die sozialstaatliche Absicherung ist. Es hat jedoch auch die Lücken im Sicherungssystem aufgezeigt und dass es wichtig ist, diese zu schliessen.
Das reichste Prozent legt weiter zu
Im Unterschied zur Finanzkrise konnten die Vermögendsten in der Folge der Corona Krise weiter an Reichtum zulegen. So hat sich das Vermögen der 300 Reichsten im Jahr 2020 um 5 Mrd. erhöht (Bilanz, 26. Nov. 2020). Die Vermögen sind in der Schweiz extrem ungleich verteilt und die Ungleichheit nimmt laufend zu. Das wohlhabendste Prozent der Steuerpflichtigen konnte seinen Anteil am Gesamtvermögen seit den frühen 80er Jahren von 33% auf 44.1% (2017) erhöhen. Aufgrund der hohen Vermögenszunahme der letzten Jahre im obersten Segment kann angenommen werden, dass heute das reichste Prozent über fast die Hälfte aller Vermögen verfügt.
Noch ungleicher als das Vermögen sind die Vermögenseinkommen verteilt. So zeigt sich anhand der Steuerdaten des Kanton Bern, dass 10% der Steuerpflichtigen über Dreiviertel aller Vermögenseinkünfte verfügen. Beim obersten Prozent mit den höchsten Vermögenseinkommen beträgt dieses mehr als 300’000 CHF. Vermögenseinkommen sind somit auch ein wesentlicher Treiber der Einkommensungleichheit. Das Vermögenseinkommen trägt beim einkommensreichsten Prozent der Rentner im Durchschnitt drei Viertel zum Einkommen bei (Fluder et al. 2021: 101).
Während die Verteilung von Vermögen und Einkommen immer ungleicher wird, haben gleichzeitig die Steuern der Spitzeneinkommen und -vermögen in den letzten Jahren abgenommen. So hat die Steuerbelastung durch Kantons- und Gemeindesteuern bei einem Einkommen von einer halben Million Franken von 29.7% im Jahr 1980 auf heute 19.3% (Stadt Zürich) abgenommen. Dabei war die Steuerbelastung in der Schweiz schon immer sehr moderat und die Rückverteilung durch Steuern und Sozialabgaben im europäischen Vergleich gering. Noch krasser wirkte sich das Steuerdumping bei den Unternehmenssteuern aus, die sich in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert haben.
Eine gerechtere Steuerpolitik könnte für eine gewisse Rückverteilung sorgen. Leider konnte die Mehrheit des abstimmenden Teils der Bevölkerung nicht von der 99%-Initiative überzeugt werden, die eine minimale Korrektur gebracht hätte. Es braucht deshalb neue Vorschläge und Überzeugungsarbeit für Massnahmen, die eine fairere Verteilung von Einkommen und Vermögen herbeiführen und die unteren und mittleren Einkommensschichten entlasten.
Literatur:
Baumann, Hans (2019): 10 Jahre Gleichheitsmonitor. In Denknetz Jahrbuch 2019.
CLER (2021): Bank CLER, Swiss Income Monitor (BCSIM).
Fluder, Robert; Fary, Rudolf; Baumann, Hans (2021) Vermögenseinkommen – Treiber der Ungleichheit. In: Juso und Denknetz (Hrsg.): Geld arbeitet nicht – wir schon. Zürich: Edition 8.
Martinez, Isabel Z.; Kopp, Daniel; Lalive, Rafael; Pichler, Stefan; Siegenthaler, Michael (2021): Corona und Ungleichheit in der Schweiz. Eine erste Analyse der Verteilungswirkungen der Covid-19-Pandemie. KOF Studien, Nr. 161, Februar 2021.
Corona verstärkt Ungleichheit
Ungleichheit nimmt auch in der Schweiz zu
Hans Baumann / Robert Fluder
Die unterschiedliche Betroffenheit durch die Corona-Krise hat die Ungleichheit akzentuiert. Viele mussten Kurzarbeit leisten oder wurden arbeitslos und erlitten deutliche Einkommenseinbussen. Andere, die in so genannt systemrelevanten Bereichen beschäftigt sind, mussten teilweise übermässig viel leisten, um das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft sicher zu stellen. Viele dieser Beschäftigten gehören zu den schlecht bezahlten: vor allem Frauen im Care-Bereich, wie Gesundheitswesen oder KITAs, aber auch solche im Detailhandel und in der Versorgung/Entsorgung. Ungewiss ist, wie lang der gegenwärtige Wirtschaftseinbruch anhält, wie sich das Pandemie-Jahr auf die Einkommen der Bevölkerung auswirkt, wie lang die Arbeitslosigkeit hoch bleibt und ob und wie stark die Armut zunimmt. Teile der Bevölkerung werden mehr und länger an den Folgen der Pandemie zu tragen haben. Andere sind weniger betroffen oder gehören sogar zu den Profiteuren der Krise.
Drei Jahre Lohnstillstand
Bereits in den Jahren vor der Pandemie-Krise hat die Ungleichheit in der Schweiz zugenommen. Die Gewerkschaften konnten in Folge der Frankenkrise 2015 nur geringe Lohnerhöhungen aushandeln. Im Durchschnitt erhöhten sich die Löhne seit 2017 um 1.8 Prozent, allerdings stagnierte die Kaufkraft wegen der etwa gleich hohen Teuerung. In der gleichen Zeit erhöhten sich das Bruttoinlandsprodukt jedoch um satte 5.7 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 5.2 Prozent. Die Nettogewinne der Unternehmen stiegen in der gleichen Zeit um fast 6 Prozent. Die Gewinner der letzten Jahre waren demzufolge Unternehmen und Vermögensbesitzer. Die Verteilung des Wohlstands hat sich somit deutlich von den Lohnarbeitenden zum Kapital verschoben.
Durch die Corona-Krise werden sich hier grössere Verschiebungen ergeben, weil die Einkommen vieler Haushalte wegen Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Lohnkürzungen bedroht sind. Personen im unteren Teil der Einkommenspyramide sind davon besonders betroffen.
Verteilung des Wohlstands: Die Schere geht auf
Die Vermögen sind in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern ausgesprochen ungleich verteilt: Ein Prozent der Bevölkerung verfügt inzwischen über 42.5 Prozent aller Vermögen. Fast ein Viertel der Haushalte hat kein Vermögen oder Schulden. Über 55 Prozent der Haushalte verfügen über keine oder nur geringe Vermögen (d.h. sie haben weniger als 50’000 Franken). Die Reichsten haben auch in den letzten 10 Jahren nochmals zugelegt. Schaut man weiter zurück, wird diese Umverteilung von unten nach oben noch deutlicher:
So besass das wohlhabendste Prozent der Steuerzahlenden in der Schweiz bereits in den 1980er und 1990er Jahren mit rund einem Drittel einen sehr hohen Anteil aller Vermögen und konnte diesen Anteil noch erheblich erhöhen: Von 30 Prozent im Jahr 1990 ist dieser auf über 42 Prozent (2016) angestiegen.
Während die Ungleichheit bei den Vermögen auch im internationalen Vergleich sehr ausgeprägt ist, liegt die Schweiz bei der Einkommensverteilung mit einem Gini-Koeffizienten von 0.30[1] im Mittelfeld der OECD-Länder. Viele europäische Staaten, wie zum Beispiel die skandinavischen Länder, Belgien und Frankreich, haben einen tieferen Koeffizienten und damit eine gleichere Verteilung als die Schweiz. Spanien und das Vereinigte Königreich haben einen höheren Koeffizienten. In den meisten Ländern ist die Verteilung der Einkommen ungleicher geworden, weil besonders die hohen und ganz hohen Einkommen in den letzten 10 Jahren überdurchschnittlich zugelegt haben.
Hinzukommt, dass das schweizerische Steuersystem keineswegs die Umverteilungsmaschinerie ist, als die es manchmal dargestellt wird. Tatsächlich zeigen OECD-Zahlen, dass der Rückverteilungseffekt der Steuern hierzulande deutlich kleiner ist als in vielen anderen Ländern. Gutverdienende wurden in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Steuerreformen entlastet. Besonders die Unternehmenssteuern wurden stark reduziert. Unter Berücksichtigung der letzten Unternehmenssteuerreform STAV zahlen «ordentlich besteuerte» Unternehmen nur noch halb so viel Steuern wie vor 40 Jahren.
Armut nimmt zu
Während sich der Reichtum zunehmend an der Spitze der Gesellschaft konzentriert, hat die Zahl der von Ausgrenzung und Armut Betroffenen zugenommen. So weist die Sozialhilfe- und die Armutsquote seit 2013 eine steigende Tendenz auf und trotz Wirtschaftswachstum hat die Erwerbslosenquote bis 2019 nur wenig abgenommen.
Armutsquote der Erwerbstätigen: Anteil der Personen, die in einem Haushalt leben mit einem Einkommen unter 50% des mittleren Einkommens.
Die Corona-Krise hat im ersten Quartal 2020 zu einem noch nie da gewesenen Anstieg der Kurzarbeit und einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Ende April waren 1.3 Millionen Arbeitnehmende auf Kurzarbeit gesetzt, was fast einem Drittel aller Arbeitnehmenden entspricht. Ende Juni waren es immer noch fast eine halbe Million. Auch die Arbeitslosigkeit ist im August 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat um 51’000 oder mehr als 50% angestiegen. Bis Anfang 2021 wird mit einem Anstieg der Erwerbslosenquote auf 6 Prozent gerechnet, das wäre der höchste Wert der letzten 50 Jahre. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Erwerbsausfälle könnten viele Familien und Alleinstehende in diesem und im nächsten Jahr in die Armut und in die Abhängigkeit von Sozialleistungen treiben.
Rückverteilung nötig
Die zunehmende Ungleichheit, die durch die Corona-Krise noch verschärft wird, ruft nach einer Gegenstrategie, um eine weitere Polarisierung der Gesellschaft zu verhindern. Nötig sind höhere Löhne, insbesondere für Geringverdienende, eine Rückverteilung über die Steuern sowie eine neue Sozialpolitik. Im Weiteren geht es auch um die Aufwertung der Care-Arbeit, eine Arbeitszeitverkürzung und eine Lohnobergrenze für Topverdienende. Zur Stabilisierung der Beschäftigung nach der Corona-Krise und auch für die Klimawende braucht es zusätzliche öffentliche Mittel. Diese müssten durch eine Abgabe auf den Spitzenvermögen und/oder eine höhere Besteuerung der Vermögenseinkommen sowie eine Erbschaftssteuer finanziert werden. Zudem sollen die Unternehmenssteuern wieder auf ein höheres Niveau angehoben und harmonisiert werden.
[1] Bezogen auf das verfügbare Einkommen. Der Gini-Koeffizient ist ein Mass für die Verteilung. Bei 1 gehört alles einem Haushalt, bei 0 haben alle gleich viel.
Reiche zahlen immer weniger Steuern
In der Krise muss erst recht wieder über Verteilung und Ungleichheit gesprochen werden.
«Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch.» Thomas Piketty in «Capital et idéologie»
In den letzten Monaten erschienen in den Medien Berichte über den hohen Anteil des Steueraufkommens der reichsten Steuerzahlenden. Dabei wird meist unterschlagen, dass die Reichen auch über einen unverhältnismässig hohen und stetig steigenden Anteil der Einkommen verfügen. Ebenso bleibt unerwähnt, dass in den letzten Jahrzehnten die Steuern für Personen mit hohen Einkommen und für Unternehmen gesunken sind.
Die betreffenden Berichte behaupten, dass die Reichen einen sehr hohen Anteil des Steueraufkommens berappen und dass das Schweizer Steuersystem so progressiv sei, dass es einen grossen Teil der bestehenden Einkommensungleichheit wieder von oben nach unten umverteile. Diese These wird vom Luzerner Professor Christoph Schaltegger, früher leitender Ökonom beim Wirtschaftsverband Economiesuisse, prominent vertreten und in den Medien verbreitet. Tatsächlich bezahlt das reichste Prozent der Steuerzahlenden fast ein Viertel aller Steuern und die reichsten 10 Prozent zahlen sogar über die Hälfte aller Bundes- Kantons- und Gemeindesteuern.
Ungleiche Verteilung der Einkommen
Was diese Berichte unterschlagen, ist die Tatsache, dass die reichsten zehn Prozent unverhältnismässig hohe Einkommen aufweisen. Allein das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als 12 Prozent aller Einkommen, die reichsten zehn Prozent sogar über mehr als ein Drittel aller Einkommen. Gemäss Statistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) verdienen die zehn Prozent Reichsten fast doppelt so viel wie die Hälfte der Bevölkerung mit den tiefsten Einkommen. Da liegt es auf der Hand, dass sie einen wesentlich höheren Anteil der Steuern berappen müssen, der dank der Steuerprogression überproportional ist. Die progressive Wirkung verdanken wir vor allem dem Anteil der Bundessteuern, die eine deutlich höhere Progression aufweist als die Kantons- und Gemeindesteuern.
Dies entspricht den in der Bundesverfassung festgeschriebenen Grundsätzen. Gemäss dem Verfassungsauftrag in Art. 127 muss bei der Besteuerung der «Grundsatz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» beachtet werden. Dazu kommt, dass die Topeinkommen nur deshalb möglich sind, weil Unternehmen sich auf eine gute öffentliche Infrastruktur, eine gut qualifizierte Belegschaft und das gemeinsam erarbeitet Wissen abstützen können. Topverdiener partizipieren überdurchschnittlich an den Erträgen des Unternehmens. Es ist deshalb nur gerecht, wenn sie sich angemessen an der Finanzierung der öffentlichen Investitionen und der Infrastruktur beteiligen.
Während die unteren 50 Prozent der Steuerzahlenden einen kleineren Teil an die Steuern zahlen als es ihrem Einkommensanteil entspricht, zahlen die mittleren Einkommen bereits einen überproportionalen Anteil an Steuern. Die mittleren 40 Prozent haben gemäss Steuerstatistik ein Reineinkommen von 52’000 bis 107’000 Franken, sind also alles andere als Grossverdiener und sind zudem stark belastet durch die hohen Krankenversicherungsprämien und die hohen Wohnungsmieten. Trotzdem müssen sie einen höheren Anteil an den Steuern berappen, als es ihrem Einkommensanteil entspricht.
Steuersenkungen
Das schweizerische System der Einkommenssteuern ist nicht die Umverteilungsmaschinerie, als die es oft dargestellt wird. Tatsächlich ist der Umverteilungseffekt der Steuern hierzulande viel kleiner als in vielen anderen Ländern. Kommt hinzu, dass Gutverdienende in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Steuerreformen entlastet wurden, womit der Um- bzw. Rückverteilungseffekt deutlich abnahm.[1] So bezahlte 1980 in der Stadt Zürich ein Paar ohne Kinder mit einem Brutto-Einkommen von einer halben Million fast 30 Prozent oder 150’000 Franken Kantons- und Gemeindesteuern. 2018 waren das nur noch 96’500 Franken oder 19.3 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwischen 1980 und der Jahrtausendwende die Inflation eine Rolle spielte, so dass eine halbe Million Einkommen 20 Jahre später einem deutlich tieferen Einkommen entsprach. Seit 2000 nahm die Teuerung nur noch um wenige Prozent zu, die Steuersenkungen waren aber immer noch beträchtlich (vgl. Grafik unten).
In vielen Kantonen gab es Steuersenkungen, die speziell den Spitzenverdienenden zu Gute kamen, wie die Teilbesteuerung der Dividenden durch die Unternehmenssteuerreform II oder allgemeine Steuerfusssenkungen, von denen dank der Progression vor allem die Gutverdienenden profitierten. Auch der Grenzsteuersatz, also der Steuersatz, mit dem die höchsten Einkommensteile besteuert werden, nahm im Kanton Zürich deutlich ab, nämlich von 29.3 Prozent im Jahr 1990 auf 26.6 Prozent im Jahr 2018. Bei den Bundessteuern blieb der Grenzsteuersatz mit rund 11 Prozent etwa gleich.
Der obige Vergleich bezieht sich auf die Stadt Zürich. Die meisten Kantone und Gemeinden in der Schweiz kennen aber tiefere Steuersätze und haben in den letzten Jahren die Steuern für Gutverdienende mehr gesenkt. So bezahlt man bei einem Brutto-Einkommen von einer Million Franken im Kanton Zürich 23 Prozent Steuern, im Kanton Zug jedoch weniger als die Hälfte, nämlich nur 10.2 Prozent. Dadurch ergibt sich für Reiche die Möglichkeiten, mittels eines Wohnsitzwechsels Steuern einzusparen und die Steuerprogression zu umgehen. Die Rückverteilungswirkung der Steuern wird dadurch noch mehr abgeschwächt.
Die Schere geht auseinander
Als Argument für die relativ geringe Umverteilungs- oder Rückverteilungswirkung des Schweizer Steuersystems wird oft erwähnt, dass die Einkommen hierzulande im Vergleich zum Ausland nicht besonders ungleich verteilt und die Verteilung sich in den letzten Jahrzehnten auch kaum verändert habe. Oder, um mit Prof. Schaltegger zu sprechen: «Die Einkommensverteilung in der Schweizer Gesellschaft ist äusserst stabil und hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Weder nehmen die Spitzeneinkommen dramatisch zu, noch hat der Mittelstand wesentlich verloren oder hat eine Polarisierung der Gesellschaftsschichten stattgefunden.»[2] Eine solche Aussage grenzt, angesichts der Fakten und der zu diesem Thema gemachten Studien (auch derjenigen von Schaltegger selbst!), an Fake-News. Die Einkommensunterschiede haben sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten deutlich vergrössert, wie in den meisten anderen Ländern auch. Da macht die Schweiz keineswegs eine Ausnahme.
So erhöhte sich seit 1980 der Anteil der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung am Gesamteinkommen von rund 28 Prozent auf heute gut 32 Prozent. Und während bis Anfang der 1990er Jahre der Einkommensanteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung zwischen 27 und 28 Prozent betrug, sank er bis 2016 auf 25.6 Prozent (vgl. Grafik).[3]Ausgesprochen stark von dieser Entwicklung profitierten die Allerreichsten. So nahm der Anteil am Einkommen des obersten Prozents der Reichen seit 1980 um über 40 Prozent zu, während es bei den obersten zehn Prozent ca. 14 Prozent Zuwachs waren und der Einkommensanteil der unteren Hälfte abnahm. Vor allem in den letzten Jahren legte das reichste Prozent nochmals rasant zu. In der gleichen Zeit hat der Anteil der Haushalte, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegen, zugenommen.
Quelle: World Inequality Database WID. Siehe Fussnote 3
Die Schere zwischen den hohen und vor allem den höchsten Einkommen zu den unteren und mittleren Einkommen ist also auch in der Schweiz deutlich auseinander gegangen.
Die obersten Einkommensschichten haben wesentlich mehr von der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte profitiert als die übrige Bevölkerung. Gemessen an ihrem Einkommen leisten sie aber immer weniger an Steuern und damit an die sozialen und ökologischen Kosten dieser Entwicklung und an die öffentliche Infrastruktur, auf welcher Ihr Reichtum zu einem wesentlichen Teil beruht. Die Rückverteilung durch den Staat und damit das Korrektiv der zunehmenden Ungleichheit verliert damit zunehmend an Wirksamkeit. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt und in Hinblick auf grosse Herausforderungen wie die Klimawende muss das Steuersystem wieder gerechter werden. Verteilungsfragen sind für die Politik aktueller denn je.
Hans Baumann, Ökonom und Publizist
Robert Fluder, Prof. Berner Fachhochschule
[1] Im Denknetz sprechen wir üblicherweise von Rückverteilung, nicht von Umverteilung, da die Umverteilung von unten nach oben schon vorher passiert und wir durch das Steuersystem eigentlich rückverteilen müssen.
[2] Christoph Schaltegger in Finanz und Wirtschaft, 9.01.2020
[3] Basis: Einkommen der Steuerzahlenden vor Steuerabzug. Gemäss Bundessteuer-Statistik liegt der Anteil der unteren 50% noch tiefer, die Unterschiede beruhen auf unterschiedlicher Erfassung der Einkommen.
Ohne Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle
Steuern sind das wichtigste Instrument für eine Rückverteilung des Wohlstands und zum sozialen Ausgleich. In einer Volksabstimmung wurde in der Schweiz 2019 die Reform der Unternehmensbesteuerung (STAF) deutlich angenommen, nachdem ein erster Versuch der rechten Parlamentsmehrheit am Volksreferendum gescheitert ist. Mit der STAF sind zwar einige international geächtete Steuerprivilegien vom Tisch. Allerdings werden sie ersetzt durch neue Steuervermeidungs-Konstrukte und durch orchestrierte Senkungen der kantonalen Gewinnsteuersätze. Damit setzt die Schweiz ihre Politik als Steuerdumping-Standort im Prinzip fort und sie schmälert die hiesigen Steuereinnahmen. Zusammen mit den Autoren Werner Kallenberger, Romeo Rey und Johannes Wickli vom Denknetz versuche ich aufzuzeigen, wie eine gerechtere Steuerpolitik aussehen kann und wie wir die nötigen Steuermittel für die grossen Investitionen in die Klimawende und soziale Reformen aufbringen können.
Der Abwärtstrend bei den Unternehmenssteuern kann nicht so weitergehen. Zum ganzen Artikel geht es hier. Eine Kurzfassung ist in der Denknetz-Zeitung erschienen.
10 Jahre Gleichheitsmonitor und Verteilungsbericht
Dieses Jahr veröffentlichte das Denknetz keinen Verteilungsbericht, sondern nur einen kurzen Kommentar zum Gleichheitsmonitor. Dies weil Ende letztes Jahr der Schweizerische Gewerkschaftsbund einen ausführlichen Verteilungsbericht herausgegeben hat[1] und seither nur noch wenige neue Daten zur Einkommens- und Vermögensverteilung verfügbar gemacht wurden. Zudem möchte das Denknetz den jährlichen Verteilungsbericht auf eine neue Basis stellen und hat dazu eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Zwei Jahre Lohnabbau bei steigenden Gewinnen Zwar konnten die Gewerkschaften für die Jahre 2017 und 2018 noch geringe Lohnerhöhungen aushandeln, im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige erhöhten sich die Löhne 2017 und 2018 aber nur um knapp ein Prozent. Da die Teuerung in den zwei Jahren 1.4 Prozent betrug, resultierte für die Arbeitnehmenden zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Kaufkraftverlust. In den Jahren zuvor war das noch anders: Eine negative Teuerung sorgte dafür, dass die Kaufkraft leicht zunahm. Zwischen den Branchen gibt es allerdings deutliche Unterschiede. In der Industrie weist allein die Chemie- und Pharmabranche eine positive Lohnentwicklung auf. Überdurchschnittlich sind die Kaufkraftverluste im Metallgewerbe sowie der Uhren- und Maschinenindustrie. Von den Dienstleistungsbranchen schneidet neben dem Finanzsektor der Detailhandel am besten ab. Die Gewinner der letzten zwei Jahre waren eindeutig die Unternehmen. Die Nettogewinne der Unternehmen stiegen laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung von rund 113 Milliarden Franken im Jahr 2016 auf über 124 Milliarden im letzten Jahr. Das ist ein Zuwachs von fast 10 Prozent. Die Verteilung des Wohlstands hat sich also deutlich von der Arbeit zum Kapital verschoben. Dies zeigt sich auch an der Verteilungsbilanz, wo die reale Lohnentwicklung mit der Arbeitsproduktivität verglichen wird. Gemäss dieser Bilanz sind rund vier Prozent des in der Schweiz erarbeiteten Volkseinkommens von den Arbeitnehmenden zu den Unternehmen bzw. Kapitalbesitzern geflossen, deutlich mehr als in den zwei Jahren zuvor wegen der stagnierenden Gewinne in die umgekehrte Richtung. In der Lohnquote hat sich dies übrigens kaum niedergeschlagen, sie ist relativ konstant geblieben. Der Hauptgrund ist, dass für die Lohnquote Gewinne und Arbeitseinkommen aus dem Ausland hinzu und Einkommen an das Ausland abgezogen werden. Da vor allem die Gewinne und Vermögenseinkommen aus dem Ausland abgenommen haben, hat der Anteil der Löhne am Bruttonationaleinkommen sich nur leicht vermindert.
Stagnierende Arbeitslosigkeit, mehr Armut Wie letztes Jahr müssen wir feststellen, dass sich der Reichtum zunehmend an der Spitze der Gesellschaft konzentriert und gleichzeitig die Armut zunimmt. Trotz anziehendem Wirtschaftswachstum und zunehmender Beschäftigung ist die Erwerbslosenquote 2018 mit 4.7 Prozent fast gleich hoch geblieben. Gleich hoch geblieben ist auch die Sozialhilfequote. Die Unterbeschäftigungsquote hat bei den Frauen in den letzten zwei Jahren sogar zugenommen. Das gleiche gilt für die Armutsgefährdung von Erwerbstätigen, die 2017 sogar sehr deutlich angestiegen ist (für 2018 gibt es noch keine Zahlen). Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich übrigens, wenn man die Kennziffern des letzten oder vorletzten Jahres mit 2008 vergleicht. Die Erwerbslosigkeit, die Unterbeschäftigung und die Sozialhilfequote hat in diesen 10 Jahren sehr deutlich zugenommen. Die Armutsgefährdung hat nach 2008 zuerst abgenommen und ist dann wieder praktisch auf das Niveau von 2008 angestiegen. Wahrlich kein Ruhmesblatt für die «reiche Schweiz».
Dieser Artikel erschien im Denknetz-Jahrbuch 2019
[1] Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB: Verteilungsbericht 2018. Bern.
Gleichheitsmonitor 2019
Unter dem Titel „Gleichheitsmonitor“ veröffentlichen wir im Denknetz-Jahrbuch jährlich einige Kennziffern über die Ungleichheit und die Verteilung in der Schweiz. Berücksichtigt werden dabei immer die zuletzt verfügbaren Daten. Zu den in den Vorjahren publizierten Kennziffern können sich Differenzen ergeben, da Datenreihen von Zeit zu Zeit aktualisiert werden und das zuletzt verfügbare Jahr oft noch provisorische Daten enthält.
Quellen und Erläuterungen:
1 BfS, Lohnindex; BfS Statistik der Gesamtarbeitsverträge, ausgehandelte, effektive Lohnerhöhung.
2 Arbeitsproduktivität nach tatsächlichen Arbeitsstunden, BfS (Für 2018: Veränderung des BIP pro Beschäftigten nach VGR).
3 Lohnquote bezogen auf das Bruttonationaleinkommen, bereinigt mit dem Anteil der Arbeitnehmenden an den Beschäftigten, gemäss VGR/BfS.
Mehrwertrate: Mehrwert/Variables Kapital oder in der VGR Nettobetriebsüberschüsse+Vermögenseinkommen Inländer/AN-Einkommen Inländer.
4 Lohnstrukturerhebung LSE BfS, privater und öffentlicher Sektor, Voll- und Teilzeit, Oberstes Dezil: 90 Prozent aller Löhne liegen darunter, 10 Prozent darüber. Unterstes Dezil: 10 Prozent aller Löhne liegen darunter, 90 Prozent darüber. Median: der mittlere Lohn, 50 Prozent liegen darüber, 50 Prozent darunter.
Lohnrückstand Frauenlöhne: BfS, Analyse Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern anhand der LSE 2016, BfS 2019
5 BfS, Erhebung über die Einkommen und die Lebensbedingungen, SILC. Verfügbares Einkommen ist das Einkommen unter Abzug der obligatorischen Ausgaben wie Steuern und Sozialversicherungen. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf Einzelpersonen umgerechnetes Haushaltseinkommen. S80/S20 = Verhältnis des Einkommens der reichsten 20 zu den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung.
Gini-Koeffizient aufgrund BfS HABE. Er ist ein Mass für die Verteilungsgleichheit. Bei einem Wert von 0 erhielten alle Haushalte gleich viel Einkommen. Bei einem Wert von 1 erhielte ein Haushalt alles, die anderen nichts.
6 Unia Lohnschere-Berichte, 2009-2019. Für das Jahr 2015 wurden die Erhebungsgrundlagen verbessert, so dass ein Teil der erhöhten Spanne im Jahr 2015 darauf zurückzuführen ist.
7 SGB-Verteilungsbericht 2016, Vermögensstatistik der Eidg. Steuerverwaltung ESTV. Für 2013 bis 2015 extrapoliert.
8 BfS (SAKE), Erwerbslosenquote und Unterbeschäftigungsquote gemäss Definition ILO, Jahresdurchschnittswerte. Die Unterbeschäftigungsquote misst den Anteil jener ArbeitnehmerInnen, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen aber eigentlich länger arbeiten möchten.
9 BfS, Sozialhilfestatistik, Sozialhilfequote im engeren Sinn, d.h. ohne Ergänzungsleistungen und andere Beihilfen.
10 BfS, Statistik über Armut und materielle Entbehrung (SILC). Definition: Prozentsatz der von Armut betroffenen Erwerbstätigen (Armut = Einkommen unter 50 Prozent des Medianeinkommens).
11 Eidg. Steuerverwaltung ESTV (2014), Statistik der direkten Bundessteuern.