1×1 der Wirtschaft

Unter diesem Titel erscheint in der Gewerkschaftszeitung «work» alle zwei Wochen eine Kolumne, die ich abwechselnd mit den beiden Ökonomen Daniel Lampart und David Gallusser vom SGB schreiben darf. Hier einige meiner Beiträge der letzten Jahre.

Die Beiträge aller Autoren der letzten Jahre in dieser Rubrik finden sich hier

Löhne stagnieren, Produktivität steigt: Wo geht das Geld hin?

23. August 2024, erschienen im work.

Die Stundenlöhne sind in der Schweiz preisbereinigt seit 1991 um 13 Prozent gestiegen, das sagt uns der Lohnindex des Bundesamtes für ­Statistik (BFS). Pro Jahr sind das im Durchschnitt 0,4 Prozent. Dabei gab es zwei längere Phasen, während ­deren die Kaufkraft stagnierte oder sogar zurückging. Die erste war während der 1990er Jahre, als die Nationalbank die Konjunktur mit einer verfehlten Zinspolitik abmurkste und die Schweiz den Anschluss an Europa verlor. Die zweite Stagnationsphase betrifft uns jetzt: Die Kaufkraft der Löhne ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen und sank 2023 unter das Niveau von 2015. Je nach Branche sind die Reallöhne noch ­stärker gesunken.

PRODUKTIVER

Während die Reallöhne in ­diesen gut 30 Jahren um 13 Prozent zunahmen, stieg die ­Arbeitsproduktivität um satte 46 Prozent. Das heisst, pro Arbeitsstunde wurden 46 Prozent mehr Wert in Form von Gütern und Dienstleistungen geschaffen. Und in dieser ­Grössenordnung ist auch das Volkseinkommen gestiegen. Besonders ­rasant stieg die Produktivität seit 2015, also auch während der Pandemiejahre und obwohl die Löhne in dieser Zeit zurückgingen. Wohin ist dieses Geld geflossen?
Profitiert haben davon die Unternehmen, deren Gewinne zunahmen, wie auch die Besitzenden von Kapitalvermögen und Immobilien, deren Werte gestiegen sind. Zudem hat die Lohnindex-Statistik des BFS einen «Makel»: Sie erfasst Strukturveränderungen nur ungenügend. Das heisst, wenn neu eine Branche mit guten Löhnen boomt (z. B. der IT-Sektor), wird das nicht oder erst spät erfasst.

SPITZENLÖHNE

Das gilt allerdings auch umgekehrt für neue Tieflohnbranchen wie etwa Uber-Taxi oder Nailstudios. Vor allem wird aber das oberste Lohnprozent, also die allerhöchsten Löhne inkl. Gewinnbeteiligungen, im Lohn­index nicht berücksichtigt. Diese Spitzenlöhne sind auch die einzigen, die in den ­letzten Jahren massiv zulegen konnten. Teilhaben an der steigenden ­Produktivität konnten also neben ­Unternehmen und Vermögenden auch Spitzenverdiener und allenfalls gut­bezahlte Beschäftigte in neuen, ­boomenden Branchen. Die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen hin­gegen ging leer aus. Es ist Zeit, den Spiess umzudrehen.

GAV-Schutz: Schweiz mit Nachholbedarf

Wie viel Prozent der Arbeitnehmenden profitieren von einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV)? In der Schweiz sind dies rund 50 Prozent. Der Abdeckungsgrad mit Gesamtarbeitsverträgen ist ein wichtiger Masstab für das Niveau des sozialen Schutzes in einem Land. GAV gehen über die gesetzlichen Mindeststandards hinaus und beinhalten in der Regel auch Mindestlöhne. Der Abdeckungsgrad mit GAV ist abhängig von der Stärke und Tradition der industriellen Beziehungen, aber auch von staatlichen Regelungen, wie zum Beispiel den gesetzlichen Möglichkeiten, sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen auf die ganze Branche und alle Unternehmen auszudehnen.

In den letzten 20 Jahren hat die Schweiz etwas aufgeholt, der Anteil der Arbeitnehmenden unter Gesamtarbeitsverträgen ist von 40 auf rund 50 Prozent gestiegen. Die meisten westeuropäischen Länder haben einen deutlich höheren Abdeckungsgrad als die Schweiz. So zum Beispiel unsere drei Nachbarländer, Frankreich, Italien und Österreich, wo zwischen 98 und 100 Prozent aller Arbeitnehmenden einem GAV unterstellt sind. Dies ist nur möglich, weil es dort staatliche Regelungen gibt, um GAV-Inhalte für alle Unternehmen verbindlich zu machen.

Viel Luft nach oben. Im Durchschnitt aller EU-Länder ist der GAV-Abdeckungsgrad aber gesunken, weil er in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten, in Griechenland aber auch in Deutschland deutlich zurückgegangen ist. Deshalb macht die EU mit einer neuen Richtlinie nicht nur bei den (gesetzlichen) Mindestlöhnen Druck, sondern auch bei der GAV-Abdeckung. So werden jene Mitgliedsländer, deren GAV-Abdeckung unter 80 Prozent ist, verpflichtet, einen Aktionsplan vorzulegen, der spezifische Massnahmen zur deutlichen Erhöhung der GAV-Abdeckung beinhaltet. Davon ist eine Mehrheit der EU-Länder betroffen.

Genau das ist auch ein wesentlicher Streitpunkt bei den Gesprächen der Schweizer Sozialpartner in Hinblick auf ein neues Bilaterales Abkommen mit der EU. Beim kollektiven Schutz durch GAV hat die Schweiz noch viel Luft nach oben. Ein Massnahmenplan für die Erhöhung der GAV-Abdeckung ist deshalb auch hier nötig, um das Niveau der Schweizer Löhne und Arbeitsbedingungen in Zukunft erhalten zu können.

14. Mai 2024, erschienen im work.

Immer mehr Arme – kommt jetzt die Trendwende?

Hans Baumann, erschienen im Work, 15. Dezember 2023

Von 2013 bis zum Jahr 2021 ist die Anzahl der von Armut Betroffenen in der Schweiz stetig angestiegen. Der Anteil der Armen an der Gesamt­bevölkerung erhöhte sich in dieser Zeit um mehr als einen Drittel, von knapp 6 auf 8,7 Prozent. 2021 entsprach dies 745 000 Personen. Als arm werden Personen bezeichnet, deren Einkommen unter jener Schwelle liegt, die für eine soziale Teilnahme am Leben nötig ist. Am Beispiel ­einer vierköpfigen Familie lag diese Grenze 2021 bei knapp 4000 Franken, wenig genug.

FRAUEN STÄRKER BETROFFEN. In den Pandemiejahren 2020/2021 hat sich die Armut dank Unterstützungs­massnahmen, verlängerter Kurzarbeit usw. nicht wesentlich verschärft, sondern ist etwa auf dem gleichen, allerdings hohen Niveau geblieben wie vor ­Corona. Besonders von Armut betroffen sind Personen mit einem ausländischen Pass. Das war zwar schon immer so, aber ihre Armutsquote hat sich seit 2013 mehr als verdoppelt, ist also ungleich stärker angestiegen als bei der Schweizer Bevölkerung. Frauen waren seit je stärker von ­Armut betroffen als Männer, der ­Unterschied hat sich aber bis 2018 deutlich verringert und ist seither wieder leicht grösser geworden. Auch die Zahl jener Personen, die trotz ­Erwerbstätigkeit arm sind, hat zugenommen. Ihr Anteil am Total der ­Erwerbstätigen ist von 2,7 Prozent im Jahr 2013 auf 4,2 Prozent gestiegen.

ZEICHEN DER TRENDWENDE. Entgegen den Befürchtungen ist der Anteil der Personen, die Sozialhilfe beziehen, in den Pandemiejahren nicht gestiegen. Und die ersten Zahlen aus den Kantonen zeigen, dass die Sozialhilfequote im letzten Jahr erstmals seit langem sogar zurückgegangen ist. Gute Kunde auch vom Arbeitsmarkt: Die Zahl der Erwerbslosen hat sich seit den Pandemiejahren deutlich verringert und ist dieses Jahr sogar auf ein Zehnjahrestief gesunken. Dies deutet alles auf eine Trendwende hin, die auch die Zahl der von Armut Betroffenen endlich wieder ­reduzieren könnte. Entscheidend wird dabei sein, wie sich die Inflation entwickelt und ob es gelingt, die steigende Belastung durch Kranken­kassenprämien und höhere ­Mieten mit Lohnanpassungen und sozialen Massnahmen zu kompensieren.

Teure Krankenkassen: Die Kopfprämien sind das Problem, nicht die Kosten

Hans Baumann, 3. November 2023, erschienen in WORK

Die Gesundheitsausgaben sind in der Schweiz in den letzten Jahren nochmals angestiegen. Wohnkosten und Krankenkassenprämien sind die grössten Ausgabenposten in Schweizer Haushalten, und Familien mit Kindern zahlen für die Krankenkassenprämien mehr als für Steuern. Es stimmt, in gewissen Bereichen ­liessen sich Gesundheitskosten ­senken: überteuerte Medikamente, hohe Löhne von Chefärzten, zu hohe Verwaltungskosten der Kassen usw.

IM RAHMEN. Vergleicht man unsere Gesundheitskosten mit anderen Ländern, so fällt auf, dass sie durchaus im Rahmen sind. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandprodukt (BIP) beträgt in der Schweiz 11,3 Prozent. In den meisten westeuropäischen Ländern beträgt der Anteil zwischen 10 und 12 Prozent. Zwei ­unserer Nachbarländer schlagen dabei etwas nach oben (Deutschland) und unten aus (Italien). Von allen Industrieländern die höchsten Kosten weist das US-amerikanische, fast vollständig privatisierte Gesundheitssystem auf. Sein Anteil am BIP ist rund 50 (!) Prozent höher als in Westeuropa.

FINANZIERUNG FALSCH. Eine gute Gesundheitsversorgung kostet, und wir sollten uns die vergleichsweise hohe Qualität, die wir heute haben, auch leisten können. Das grösste Problem sind hierzulande nicht die Kosten, sondern ihre Finanzierung. Und hier gibt es riesige Unterschiede zu anderen Ländern. Während etwa in Dänemark und Grossbritannien der Hauptteil der Kosten aus Steuermitteln bezahlt wird, die progressiv sind und die Reichen deutlich stärker belasten,

werden in anderen Ländern die Gesundheitskosten wenigstens mit Lohnprozenten und somit im Verhältnis zum Einkommen finanziert. In der Schweiz mit der Kopfprämie bezahlt eine Angestellte, die 5000 Franken verdient, ­genau gleich viel wie der Manager, der 50 000 Franken im Monat verdient. Das ist unsozial und führt dazu, dass untere und mittlere Einkommen viel zu stark belastet werden. Auch die Prä­mienverbilligung für tiefe Einkommen ändert daran nur wenig. Die Schweiz ist reich genug, um sich ein gutes Gesundheitssystem zu leisten. Weil aber der Reichtum so ungleich verteilt ist, muss auch die Finanzierung der Gesundheitskosten anders aufgeteilt werden. Die Prämienentlastungsinitiative der SP ist ein erster Schritt dazu.

Reiche Schweiz? Über die Hälfte besitzt (fast) gar nichts

Hans Baumann, erschienen im «work», 15. September 2023

Der jährlich von der Credit Suisse publizierte «Global Wealth Report» rechnet vor, dass die in der Schweiz lebenden erwachsenen Personen mit über 603 000 Franken das höchste Durchschnittsvermögen der Welt aufweisen. Dies weit vor den USA, die an zweiter Stelle liegen, und allen anderen Ländern. Zweifellos ist die Schweiz eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Die CS-Studie relativiert dies jedoch gleich selbst wieder: Der Reichtum ist in der Schweiz sehr ungleich verteilt. Deshalb liegt das mittlere Vermögen dann nur noch bei etwas mehr als 167 000 Dollar. Das mittlere Vermögen (Median) ist der­jenige Wert, der genau in der Mitte liegt, das heisst 50 Prozent der Erwachsenen besitzen weniger als 167 000, 50 Prozent besitzen mehr. So gerechnet liegt die Schweiz nur noch an sechster Stelle. Also zum Beispiel hinter Belgien, Dänemark und Neuseeland, deren Reichtum gleich­mässiger verteilt ist.

BVG-TRICK. Auf der Basis der neusten Vermögensstatistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) kommt man allerdings nochmals auf ganz andere Werte. Der Hauptgrund dafür ist, dass die CS-Studie die ­Pensionskassenguthaben als Privatver­mögen einbezieht. Das ist fragwürdig, weil die zweite Säule in der Schweiz ein gesetzlicher Bestandteil der Altersvorsorge ist und die Arbeitnehmenden vor der Pensionierung nicht darüber verfügen können. Die ESTV-Statistik basiert hingegen auf dem Reinver­mögen aus der Steuer­veranlagung, also ohne PK-Guthaben. So sinkt das Durchschnittsvermögen pro erwachsene Person auf 311 000 Franken, im Vergleich mit der CS-Studie etwa die Hälfte. Und da sich in der Schweiz rund drei Viertel des ­Vermögens bei den reichsten 5 Prozent der Bevölkerung konzentrieren, bleibt für die ­grosse Mehrheit von 95 Prozent der Bevölkerung nicht mehr so viel übrig: Deren Vermögen beträgt durchschnittlich rund 100 000 Franken.

LETZTE RESERVEN WEG. Und in der ­unteren Hälfte der Wohlstandspyramide? Ohne Berücksichtigung der PK-Vermögen besitzen über die Hälfte der Erwachsenen gar nichts, sind verschuldet oder haben nur wenige Ersparnisse. Im Durchschnitt ergibt dies für 55 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nur rund 7500 Franken Vermögen. Jetzt, angesichts Teuerung, steigender Mieten, Krankenkassenprämien und Strompreise kann sich das fatal auswirken: Eine Mehrheit der Bevölkerung hat keine Reserven, wenn die Kaufkraft sinkt und der Lohn knapp wird.

Falsche Behauptungen über «faule» Teilzeitarbeitende

Hans Baumann, erschienen im work, 30. Juni 2023

Neoliberale Ökonomen wie der ­Luzerner Professor Christoph Schalt­egger oder rechte Politiker wie FDP-Präsident Thierry Burkart wollen uns weismachen, dass in der Schweiz zu wenig gearbeitet werde. Die offiziellen Zahlen ergeben aber ein ganz ­anderes Bild: 2022 stieg die Anzahl aller geleisteten Arbeitsstunden in der Schweiz um 1,3 Prozent auf ­rekordhohe 7,9 Milliarden Stunden.

SCHLECHTGERECHNET. Europaweit liegt die Schweiz mit einer Vollzeit-­Arbeitswoche von über 42 Stunden einsam an der Spitze, der europäische Durchschnitt liegt bei einer 38-Stunden-Woche. Werden neben den Vollzeit- auch die Teilzeitbeschäftigten berücksichtigt, sinkt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit hierzulande auf knapp 36 Stunden. Das ist aber nicht etwa besonders wenig, sondern liegt ziemlich genau im europäischen Durchschnitt. Der einzige Unterschied: In der Schweiz gibt es überdurchschnittlich viele Teilzeitangestellte. Und das sind vor allem Frauen. Sie übernehmen zu Hause den Löwinnenanteil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit – und büssen dafür an Lohn ein.

Es ist bezeichnend, dass die rechten Kritiker diese riesige Menge an ­Gratisarbeit in Haushalt, Familie und Pflege nie erwähnen. Klar ist aber auch: Wenn sie das täten, dann ginge ihr Märchen von den «faulen Teilzeitern» nicht mehr auf. Schliesslich übersteigt die unbezahlt geleistete Arbeit mit fast 10 Milliarden Stunden sogar die Zahl der Erwerbsstunden.

SENKUNG ÃœBERFÄLLIG. Auch bei der Erwerbsquote – also dem Anteil Erwerbstätiger, gemessen an der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren – steht die Schweiz an der Spitze. Genauso beim Anteil der Arbeitsstunden, gemessen an der Gesamtbevölkerung (22,8 gegenüber 19,5 Arbeitsstunden im europäischen Vergleich). Kein Wunder, ist auch die Arbeits­produktivität rund einen Viertel höher als im europäischen Durchschnitt.

Allen Behauptungen zum Trotz gehört die Schweiz also nach wie vor zu den Ländern mit der längsten Arbeitszeit und der höchsten Erwerbsbeteiligung. Und die hohe Arbeitsproduktivität würde es längst erlauben, die generelle Arbeitszeit zu verkürzen. Und zwar ohne Lohneinbussen! Etwa mit einer 4-Tage-Woche. So, dass Familie und Beruf besser vereinbar sind und die unbezahlte Arbeit gerechter aufgeteilt werden kann.

Kaufkraft sinkt dramatisch

Hans Baumann, erschienen im work, 9.5.2023

Die Kaufkraft ist in Europa 2022 so stark zurückgegangen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In der EU stiegen die Löhne im Durchschnitt zwar um 4,4 Prozent. Da die Preise aber mit 9,2 Prozent mehr als doppelt so stark zulegten, erlitten die Arbeitnehmenden einen Kaufkraftverlust von fast 5 Prozent. Diese Reallohnverluste verteilten sich auf die verschiedenen EU-Staaten unterschiedlich: Am stärksten betroffen unter den Nachbarländern der Schweiz war Italien, während die Verluste für die Lohnabhängigen in Frankreich und Österreich geringer ausfielen.

LAGE SPITZT SICH ZU. Auch in der Schweiz ist die Kaufkraft deutlich gesunken. Dank der relativ tiefen Inflation von 2,8 Prozent fielen die realen Lohnverluste 2022 mit «nur» 1,9 Prozent tiefer aus als in den meisten anderen Ländern. Allerdings ist die Kaufkraft schon zum zweiten Mal in Folge zurückgegangen. Das heisst: Heute haben die Beschäftigten real 2,7 Prozent weniger Lohn als noch 2021. Die Schweizer Reallöhne sind damit auf den Stand von 2015 zurückgefallen. Verschärft wird die Situation durch den Anstieg der grundlegenden Lebenshaltungskosten. Diese sind viel stärker gestiegen als die durchschnittlichen Konsumentenpreise und treffen vor allem Haushalte mit tiefen Einkommen hart. So sind Mieten und Mietnebenkosten europaweit viermal so stark gestiegen wie die Löhne. In der Schweiz fallen zudem die Krankenkassenprämien stark ins Gewicht. Für viele Familien mit tiefen und mittleren Einkommen sind diese Kosten höher als die gesamte Steuerbelastung, Existenzängste nehmen rasant zu.

GEWERKSCHAFTEN GEFORDERT. Um zu verhindern, dass noch mehr Menschen in die Armut zurückfallen, gibt es nur ein Mittel: mehr Lohn. In vielen europäischen Ländern sind deshalb die Mindestlöhne schon heraufgesetzt worden, teilweise sogar deutlich. In einigen Branchen gibt es hingegen noch immer Arbeitskämpfe, weil die Lohnangebote der Arbeitgeber zu tief waren. In der Schweiz konnten in der Lohnrunde 2023 Lohnerhöhungen zwischen 2 und 3 Prozent erreicht werden, was den Nachholbedarf bei der Kaufkraft wenigstens zu einem Teil ausgleicht. Da die Inflation im laufenden Jahr aber voraussichtlich nur wenig zurückgehen wird, ist schon jetzt mit weiteren Kaufkraftverlusten zu rechnen. Die Gewerkschaften sind also stark gefordert.

Ohne Unbezahlte Care-Arbeit geht nichts

Hans Baumann, 31. März 2023, erschienen in work

In den letzten 25 Jahren ist in der Schweiz das Volumen der unbezahlten Arbeit viel stärker angewachsen als ­jenes der bezahlten Arbeit. Unbezahlte Arbeit ist zu einem grossen Teil Haus- und Betreuungsarbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird. Seit 1997 berechnet das Bundesamt für Statistik (BFS) den Wert der unbezahlten ­Arbeit anhand der Lohnkosten ähnlicher T­ätigkeiten im Erwerbssektor. 2020 betrug der Wert der unbezahlten Arbeit stattliche 434 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) – also alle bezahlten und zum Marktwert berechneten Güter- und Dienstleistungen – erreichte im selben Jahr 695 Milliarden Franken.

PRODUKTIVITÄT STEIGT. Seit 1997 stieg das BIP preisbereinigt, das heisst unter Berücksichtigung der Inflation, um rund 47 Prozent. Das BIP wächst nicht nur, weil sich das ­Arbeitsvolumen erhöht, sondern auch, weil pro Arbeitsstunde immer mehr geleistet wird. Oder in anderen Worten: weil die Produktivität steigt. Hier gibt es erhebliche Unterschiede: In der Schweiz stieg die Produktivität pro bezahlte Arbeitsstunde seit 1997 um über 27 Prozent. Das ist mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern und eine wichtige Basis für den Wohlstand. Die realen Löhne konnten da mit einem Zuwachs von gut 15 Prozent allerdings nicht mithalten. Und werden die Stunden hinzugerechnet, die für unbezahlte Arbeit aufgewendet werden, ist die Produktivität nur um 19,5 Prozent gewachsen.

NEUE SICHT NÖTIG. Die Ökonomin ­Mascha Madörin hat sich schon vor Jahren mit dem Phänomen des «Auseinanderdriftens der Produktivitäten» auseinandergesetzt und aufgezeigt, dass sich die Produktivität je nach Branche sehr unterschiedlich entwickelt. So veränderte der rasante technische Fortschritt den Industriesektor erheblich, während eine derartige ­Rationalisierung der Arbeit in stark personenbezogenen Branchen – wie der Betreuung und der Pflege – viel weniger möglich und oft auch nicht erstrebenswert ist. Es braucht deshalb eine neue Sicht auf die Ökonomie jenseits der traditionellen Begriffe von Wachstum und Produktivität: Eine ­Tätigkeit alleine daran zu messen, wie stark sie sich rationalisieren lässt, ist falsch und ignoriert die immense Bedeutung der unbezahlten und bezahlten Care-Arbeit. Schliesslich wäre ohne sie der Fortbestand unserer Gesellschaft nicht möglich. Care-Arbeit ist also auch für den produktiven Sektor unabdingbar – und für die Wohlstandsmehrung sowieso.

Die Zinspolitik der SNB befeuert die Wohnungsnot

Hans Baumann, 17. Februar 2023, erschienen in work

Als Reaktion auf die steigende Teuerung hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) im letzten Dezember den Leitzins nochmals um 0,5 Prozent auf 1 Prozent erhöht. Sie folgte damit der Europäischen Zentralbank und der US-Zentralbank. Die höheren Zinsen sollten helfen, die Preise zu stabilisieren. Vor allem für Personen mit tiefen und mittleren Einkommen sind die steigenden Preise ein grosses Pro­blem. Massnahmen zur Kaufkrafterhaltung sind deshalb zweifellos nötig.

GROSSE SKEPSIS. In der Schweiz betrug die Teuerung im letzten Jahr 2,8 Prozent und war im November und Dezember 2022 rückläufig. Im Vergleich zu vielen europäischen Ländern, die immer noch mit Inflationsraten von 10 Prozent und mehr konfrontiert sind, ist das erfreulich. Hält der Trend an, sollte die Inflation in der Schweiz schon Ende Jahr wieder bei maximal 2 Prozent liegen. Das ist das Ziel der SNB. Trotzdem behält sich die Nationalbank vor, die Leitzinsen diesen Frühling nochmals zu erhöhen. Dabei zweifeln viele Ökonominnen und Ökonomen daran, ob das Schrauben an den Zinsen in der heutigen Situation überhaupt wirksam sei. Die gegen­wärtige Teuerung wurde nämlich nicht durch eine zu hohe Nachfrage ver­ursacht, sondern weil Rohstoff- und Energiekonzerne die Preise nach oben trieben. Eine Dämpfung der Nachfrage, auf die die Zinserhöhung abzielt, nützt in diesem Fall also wenig gegen die Inflation. Sie bewirkt hingegen, dass ­Unternehmen weniger investieren und auch weniger gebaut wird.

MIETEN STEIGEN. Deshalb ist die Zinserhöhung auch für Mieterinnen und Mieter eine schlechte Nachricht. Denn steigende Hypothekarzinsen führen zu steigenden Mieten. Und weil der Wohnungsleerstand schon heute sehr tief ist, wird es für viele Menschen immer schwieriger, ein bezahlbares Zuhause zu finden.

Die Zahlen zeigen: Der Wohnungsbau ist seit einigen Jahren rückläufig, insbesondere in den Grossstädten und den Agglos, wo die Wohnungsnot gross ist und mehr Wohnraum entstehen müsste (siehe Grafik). Es besteht die Gefahr, dass die SNB mit ihren Zinserhöhungen den Wohnungsbau jetzt noch mehr abwürgt.

Im Moment wächst die Schweizer Wirtschaft noch leicht, und die Arbeitslosigkeit ist tief. Doch auch dies kann sich durch eine verfehlte Zinspolitik schnell ändern. Dies ist Ende der 1980er Jahre passiert in einer ähnlichen Situation: Die verfehlte Geldpolitik der Nationalbank bescherte der Schweiz damals fast zehn Jahre Rezession.

Schweizer Wirtschaft: Globaler geht kaum

Quelle: Spéth, Arman, Globale Warenketten, Arbeitsarbitrage und die Schweiz. In: Widerspruch Nr. 79 2022

Hans Baumann. erschienen im work, 16. Dezember 2022

Die Schweiz hat eine im höchsten Grad globalisierte Wirtschaft. Das misst sich nicht nur am Anteil des Aussenhandels an unserem Bruttoinland­produkt, sondern auch am Volumen der Investitionen, die von Schweizer Konzernen im Ausland getätigt werden. Laut der Schweizerischen Nationalbank (SNB) beschäftigten Schweizer Konzerne über zwei Millionen Menschen in Tochterbetrieben im Ausland. Weit über die Hälfte davon in Europa und in Nordamerika, rund 750 000 im globalen ­Süden. Damit hält die Schweiz im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl wahrscheinlich den Weltrekord.

AUSGENUTZT. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen den Investitionen, die Schweizer Konzerne in ­Europa und Nordamerika tätigen, und jenen, die sie in den Ländern des globalen Südens tätigen. Der Grossteil der Direktinvestitionen in Europa und Nordamerika besteht aus Firmen, die durch Fusion oder Zukauf in den Konzernbesitz gekommen sind. Es sind also keine Neuinvestitionen, sondern es werden bestehende Produktions­anlagen übernommen. Bei Schweizer Investitionen im globalen Süden ist das anders: ein grosser Teil besteht dort tatsächlich aus Neuinvestitionen, die getätigt werden, um das riesige Lohngefälle zwischen der Schweiz und diesen Ländern auszunützen und um höhere Profite zu erzielen.

AUSGELAGERT. Im globalen Süden ­arbeiten zudem viel mehr Beschäftigte für Schweizer Firmen als jene 750 000, die die Nationalbank ausweist. Denn: sie zählt nur Beschäftigte von Firmen, an denen Schweizer Konzerne eine massgebende Beteiligung haben. Nicht eingerechnet sind aber Subunternehmen oder Zulieferbetriebe. Wie viele Menschen im globalen Süden für den Export in die Schweiz tätig sind, hat der Sozialwissenschafter Arman Spéth ­untersucht. Er kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Allein in China, Indien, der Türkei und Mexiko arbeiteten im Jahr 2014 rund 800 000 Menschen für den exklusiven Export in die Schweiz, die meisten davon in Indien und China und ein grosser Teil in Zulieferbetrieben für die Schweizer Indus­trie. Gemessen an den rund 1,1 Millionen Menschen, die in der Schweiz im industriellen und gewerblichen Sektor angestellt sind, zeigt sich, welch riesige Anzahl von industriellen Arbeitsplätzen in den 2000er Jahren vom Norden in den globalen Süden verlagert wurden. In den letzten Jahren stockt die Globalisierung allerdings. Einige Konzerne haben umstrukturiert und deshalb Desinvestitionen vorgenommen. Seit den Pandemiejahren werden sogar wieder Produktionsstätten zurückverlagert. Gründe hierfür sind das geringere Wachstum in Südostasien, die Unterbrechung der Lieferketten und die damit verbundenen einseitigen Abhängigkeiten.

Steigendes Arbeitsvolumen: Frauen leisten am meisten

Das Arbeitsvolumen, also das Total aller geleisteten Arbeitsstunden, nahm in der Schweiz im letzten Jahr wieder deutlich zu. 2021 wurden 7,8 Milliarden bezahlte Arbeitsstunden geleistet, ein Plus von 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allerdings wurde damit noch nicht ganz wieder der Stand von vor der Pan­demie erreicht. Im ersten Pandemiejahr 2020 gingen die geleisteten ­bezahlten Arbeitsstunden nämlich stark zurück. Dies vor allem wegen der nötigen Kurzarbeit und anderer, krankheitsbedingter Absenzen.

MEHR CARE-ARBEIT. Die Zahl der unbezahlten Arbeitsstunden – also der Haus-, Familien- und Freiwilligen­arbeit – erreichte im Pandemiejahr 2020 hingegen mit 9,8 Milliarden Stunden einen neuen Höchststand. Dies ist nicht verwunderlich, mussten doch in der Pandemie nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch innerhalb der Familie mehr Menschen gepflegt und betreut werden. Laut Schätzungen ist diese Zahl 2021 ähnlich hoch geblieben (siehe Grafik). Demnach werden in der Schweiz pro Jahr rund 2 Milliarden Stunden mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet.

GESCHLECHTERGRABEN. In den letzten 20 Jahren zeigt die Entwicklung des Arbeitsvolumens eine deutliche Zunahme der bezahlten Arbeit, trotz einem geringen, aber kontinuier­lichen Rückgang der Wochen- bzw. Jahresarbeitszeit. Zurückzuführen ist das vor allem auf eine Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit und auf die Zuwanderung von Erwerbstätigen. Bemerkenswert ist aber auch hier der Vergleich zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit: Das Volumen der unbezahlten Arbeit ist seit der Jahrtausendwende viel stärker angestiegen als dasjenige der bezahlten ­Arbeit. Nämlich um über 22 Prozent gegenüber gut 13 Prozent bei der ­bezahlten Arbeit.

Mit 5,9 Milliarden Stunden leisten Frauen einen viel grösseren Anteil der unbezahlten Arbeit als Männer (3,9 Milliarden Stunden), auch wenn ihr Anteil sich in den letzten 20 Jahren leicht erhöht hat. Auch bei der Gesamtzahl aller geleisteten Arbeitsstunden liegen die Frauen mit fast 9 Milliarden Stunden gegenüber den Männern mit rund 8,7 Milliarden Stunden vorne. Sicher ist: Ohne die unbezahlte Familien- und Hausarbeit würde wohl gar nichts mehr gehen. Sie ist unentbehrlich für das Funktionieren unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft und für unseren Wohlstand.

Hans Baumann, erschienen im work, 4. November 2022

Teuerung trifft Haushalte mit tiefen Einkommen stärker

Hans Baumann, erschienen im work, 16. September 2022

Wenn jetzt die Preise steigen, trifft das die Haushalte mit tiefen Einkommen hart. Denn die Kaufkraft ihres Einkommens sinkt stärker als jene bei mittleren und höheren Einkommen. Der Grund dafür: Personen mit wenig Einkommen müssen einen grösseren Teil davon für den täglichen Gebrauch und fürs Wohnen ausgeben. Also für Essen und Trinken sowie für Miete und Energiekosten. Und diese Preise sind seit Jahresfrist stärker gestiegen als etwa jene für Bekleidung und Möbel.

REICHE WENIGER BETROFFEN. Eine Untersuchung in Grossbritannien hat aufgezeigt, wie sich die unterschiedliche Zusammensetzung der Ausgaben auf die Einkommens­gruppen auswirkt. Unser Diagramm zeigt die Unterschiede umgerechnet auf die schweizerische Situa­tion mit einem durchschnittlichen Anstieg der Konsumentenpreise von 3,5 Prozent im August 2022. Der Warenkorb der Haushalte in den mittleren Einkommensgruppen hat eine Teuerung von 3,5 bis 3,7 Prozent. Für Haushalte mit tiefen Einkommen erhöhen sich hingegen die Konsumpreise um 3,8 bis 4,2 Prozent. Der Zehntel mit den höchsten Einkommen ist hingegen nur von einer Teuerung von 3,1 Prozent betroffen.

TEUERUNGSAUSGLEICH JETZT! Eine höhere Teuerung hat demnach auch Auswirkungen auf die Einkommensverteilung: Tiefe Löhne verlieren (noch) mehr an Kaufkraft, hohe Einkommen verlieren weniger. Auch aus gewerkschaftlicher Sicht ist deshalb eine hohe Teuerung ­problematisch. Drastische Gegenmassnahmen seitens der

Nationalbank wie eine schnelle Zins­erhöhung können jedoch zu Rezession und Arbeitslosigkeit führen. Was wiederum oft diejenigen mit geringeren Einkommen trifft. Besser wäre es etwa, die Extraprofite der Energiekonzerne zu besteuern und mit diesen Mitteln Haushalten mit mittleren und tiefen Einkommen die Heizkosten zu verbilligen.Die wichtigste Antwort auf die ­steigende Teuerung sind aber ein ­Teuerungsausgleich und Lohn­erhöhungen. Die tiefen Einkommen müssen dabei mehr angehoben werden, weil sie stärker von der Teuerung betroffen sind, etwa durch einen einheitlichen ­Teuerungsausgleich in Franken für alle oder eine deutliche Anhebung der vertraglichen und gesetzlichen Mindestlöhne.

Die Reichsten verursachen am meisten CO2

Hans Baumann, erschienen im work, 20. Mai 2022

Die Ungleichheit bei den erzeugten CO2-Emissionen ist beträchtlich. Weltweit, aber auch innerhalb einzelner Länder und Regionen. So verursachen die reichsten 10 Prozent der Welt­bevölkerung fast die Hälfte aller klimaschädigenden CO2-Emissionen. Die ­ärmere Hälfte der Bevölkerung verursacht dagegen nur ganze 12 Prozent. Selbst das allerreichste Prozent ­verursacht mit 17 Prozent noch mehr CO2-Emissionen als die ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung.

REICHE KLIMAFEINDE. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die wohlhabenden Regionen der Welt am meisten CO2 erzeugen. Zwar stimmt es, dass die durchschnittlichen Pro-Kopf- Emissionen in den USA rund doppelt so hoch sind wie in Europa und etwa viermal so hoch wie in Lateinamerika. Aber auch innerhalb der USA oder Europas sind die Emissionsunterschiede zwischen Arm und Reich riesig. So betragen in Europa die CO2-Emissionen bei den reichsten 10 Prozent fast 30 Tonnen pro Jahr und Kopf, während die ­unteren 50 Prozent der Bevölkerung pro Kopf nur 5,1 Tonnen verbrauchen. In vielen Industrieländern hat der CO2-Ausstoss pro Kopf bei der ärmeren Hälfte der Bevölkerung seit 1990 abgenommen, bei den reichsten 10 Prozent jedoch nochmals deutlich zugenommen. Die Schere zwischen unten und oben ist grösser geworden. Für die Schweiz gibt es solche Daten nicht, aber sie dürften in einer ähnlichen Grössenordnung liegen. Sollen die Ziele des Weltklimarates erreicht werden (Erderwärmung maximal + 1,5 Prozent), müssten die CO2-Emissionen pro Kopf auf etwa 2,2 Tonnen verkleinert werden. Das würde am Beispiel Europas für die ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung eine gute Halbierung bedeuten, in diese Richtung geht auch der Trend. Ganz anders sieht es bei den reichsten 10 Prozent aus: Sie müssten ihren CO2-Ausstoss um über 90 Prozent reduzieren.

WER BEZAHLT? Â«Klimagerechtigkeit» heisst, dass nicht nur die reichen Länder, sondern auch die reicheren Schichten der Bevölkerung einen überdurchschnittlichen Anteil an der Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten haben. Sie haben bisher auch überdurchschnittlich vom Ressourcen­verbrauch dieser Erde profitiert. Für die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre geht es konkret auch um die Frage, wer die ­nötigen Massnahmen zur Bewältigung der Klimakrise, also dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, bezahlen soll.

(Quelle: World Inequalitiy Database, Chancel (2021)

Schweiz bereits heute hochgerüstet

Hans Baumann, erschienen im work, 1. April 2022

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der erschreckenden Kriegsbilder aus dieser Region werden die Stimmen nach Aufrüstung immer lauter, auch in der Schweiz. Es ist nachvollziehbar, dass viele Menschen jetzt Angst haben und das Sicherheitsbedürfnis steigt. Gleich­zeitig ist aber offensichtlich, dass Konflikte nicht mit einem Ankurbeln der Rüstungsspirale, mit Waffengewalt und Krieg gelöst werden können.

RÃœSTUNGSREKORD. Oft wird von der Rechten und der Rüstungslobby behauptet, es werde seit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 immer weniger für das Militär ausgegeben. Die Fakten widerlegen dies deutlich. In der Schweiz erreichte der Rüstungsetat im Jahr 2020 mit 5,7 Milliarden ­Dollar (rund 5,4 Milliarden Franken) einen neuen Rekord. Zu Beginn der 1990er Jahre lagen die Militäraus­gaben bei gut 4 Milliarden pro Jahr, gingen dann zurück und erhöhten sich im neuen Jahrtausend wieder kontinuierlich. Im internationalen Vergleich werden in der Schweiz die Rüstungsausgaben oft an ihrem Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) gemessen und liegen so mit 0,8 Prozent des BIP eher tief. Dabei wird übersehen, dass die Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eines der höchsten BIP der Welt hat. Werden die Rüstungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung gemessen, so wie es das renommierte Internationale Friedensinstitut in Stockholm SIPRI ausrechnet, sieht die Sache anders aus. Die Schweiz gehört hier mit 659 Dollar zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben. Die ­Militärausgaben sind höher als im Nachbar- und Natoland Deutschland und höher als im ebenfalls neutralen Schweden, das flächenmässig mehr als zehnmal grösser ist.

RICHTIG RECHNEN! In vielen Ländern beinhalten die Militärbudgets allerdings auch die Zivilschutzausgaben, in der Schweiz nicht. Zudem sind bei den Schweizer Zahlen die Militärausgaben der Kantone und Gemeinden sowie die Versicherungs- und Erwerbsersatzleistungen nicht enthalten (work berichtete). Zählt man diese Leistungen hinzu, dürfte die Schweiz Pro-Kopf-Militäraus­gaben von über 900 Dollar aufweisen und damit in Europa nur noch vom Natoland Norwegen übertroffen werden. Die Schweiz ist bereits ­heute hochgerüstet. Ein weiterer Ausbau der Armee würde die Rüstungsspirale ankurbeln und wäre kein Beitrag zur Friedenssicherung.

Superreiche bedrohen Demokratie

Hans Baumann, erschienen im work, 18. Februar 2022

DIE SCHERE GEHT AUF. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Steuerverwaltung für 2018 zeigen einen steilen Anstieg der höchsten Vermögen in der Schweiz. Das reichste Prozent der Steuerzahlenden besass Anfang der 1990er Jahre 30 Prozent aller Vermögen, was im internationalen Vergleich schon damals ein Spitzenwert war. Bis 2018 ist dieser Anteil auf fast 45 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass die Wohlhabendsten ihren Anteil am Gesamtvermögen innert knapp dreier Jahrzehnte um 50 Prozent steigern konnten. Auch im Ländervergleich heben die Schweizer Reichen ab. Selbst in den Vereinigten Staaten, die eine ähnlich ungleiche Vermögensverteilung aufweisen, betrug der Anstieg seit 1990 «nur» 35 Prozent.

(Quelle: ESTV, Gesamtschweizerische Vermögensstatistik (ohne Berücksichtigung der BVG-Ersparnisse), World Inequality Data WID.)

REKORD-ZUWACHS. Ganz anders sieht es am anderen Ende der Wohlstandsverteilung aus. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besass 2018 nach wie vor nur 1,3 Prozent des Gesamtvermögens, sogar etwas weniger als 1990. In absoluten Zahlen: Gegen drei Millionen Steuerpflichtige verfügten über ein Vermögen von etwa 28 Milliarden Franken. Die 80 000 Reichsten in der Schweiz versteuerten hingegen rund 970 Milliarden Franken! Auch nach 2018, also während der Coronajahre, ist die Verteilung ungleicher geworden. Gemäss Weltbank konnten die 10 reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit Beginn der Pandemie sogar verdoppeln. Auch in der Schweiz konnten die 300 reichsten Personen ihr Vermögen im Coronajahr 2021 deutlich steigern, nämlich gleich um 115 Milliarden Franken. Das war der höchste jährliche Zuwachs seit Einführung des «Bilanz»-Rankings im Jahr 1989.

MEINUNGSMACHER. Die zunehmende Ungleichheit beim Vermögen ist ein wirtschaftliches und soziales Problem, weil immer mehr Vermögen dort angelegt werden, wo am meisten Rendite winkt, anstatt dort, wo tatsächliche Bedürfnisse vorhanden sind. Aber auch politisch kann diese Ungleichheit grosse Machtverschiebungen bewirken und demokratische Entscheide in Frage stellen. Einen kleinen Vorgeschmack dazu haben wir in der Schweiz anlässlich der Volksabstimmungen vom 28. November 2021 bekommen. Die Propagandamaschinerie für die «Justizinitiative» und gegen das Covid-19-Gesetz wurde zum grössten Teil von drei Superreichen finanziert, dem Unternehmer Adrian Gasser und den Milliardärinnen Simone Wietlisbach und Rahel Blocher.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind diesmal zwar nicht auf deren Abstimmungskampagnen hereingefallen. Aber wie lange kann das noch gutgehen? Bei knappem Ausgang kann der finanzielle Einsatz einzelner Superreicher durchaus entscheidend sein. Es ist deshalb für das Funktionieren unseres demokratischen Systems nötig, die immer mehr auseinanderklaffende Schere bei der Vermögensverteilung wieder zu schliessen. Sonst laufen wir Gefahr, dass reiche Familien und Unternehmen das demokratische System aushebeln.

Die zweite Säule verschärft die Ungleichheit

Hans Baumann, erschienen im work, 5. November 2021

Die Lohndiskriminierung von Frauen ist grösser, als es in den üblichen Lohnvergleichen gezeigt wird. Denn ­zusätzlich zur Differenz bei den Bruttolöhnen gibt es krasse Unterschiede bei den Arbeitgeberbeiträgen für die Pensionskasse. Und diese machen ­einen nicht unbedeutenden Teil des Lohnes aus. Hohe Kaderleute ­bekommen nicht nur das Vielfache an Lohn, sondern überproportional mehr in Form von Pensionskassenbei­trägen. Die Lohnschere zwischen Mann und Frau wie auch zwischen Tief­löhnen und Spitzenlöhnen geht ­dadurch noch mehr auseinander.

SECHS MAL MEHR. In der offiziellen Statistik über Lohnungleichheit werden die Brutto- oder Nettolöhne miteinander verglichen. Der Rückstand der Frauen- auf die Männerlöhne beträgt laut Lohnerhebung 2018 im Durchschnitt aller Branchen 19 Prozent. Um die Lohnschere zwischen Spitzen­löhnen und Tieflöhnen darzustellen, werden üblicherweise die zehn Prozent mit den höchsten (Brutto-)Löhnen mit den untersten zehn Prozent verglichen. Hier zeigt uns die Lohnstruktur­erhebung 2018, dass die obersten 10 Prozent rund sechs Mal mehr verdienen als die untersten zehn Prozent, Tendenz steigend!

Die zweite Säule verschärft die Altersarmut bei Frauen

BEITRÄGE DER ARBEITGEBER. Tatsächlich ist die Lohnschere aber noch grös­ser. Nicht berücksichtigt werden bei diesen ­Vergleichen nämlich die Arbeitgeberbeiträge an die Pensionskasse. Und diese können für ältere Arbeitnehmende schnell einmal 10 bis 20 Prozent des Lohnes ausmachen. Der Chefarzt eines Zürcher Spitals ist zum Beispiel in der Lohnklasse 28 eingeteilt und verdient mit rund 240 000 Franken 3,6 Mal mehr als eine Pflegehilfe mit rund 67 000 Franken Lohn. Wegen des Koordinationsabzugs und weil der versicherte Lohn gegen oben in den meisten Pensionskassen nicht begrenzt ist, erhält der Chefarzt aber über 37 000 Franken pro Jahr an ­Arbeitgeberbeiträgen, das sind 5,1 Mal mehr als die Pflegehilfe mit 7400 Franken. Dabei ist der Lohnunterschied mit dem Faktor 3,6 im Spital nicht einmal besonders hoch: Managerlöhne in Grosskonzernen können auch 10 oder 50 Mal höher sein als Tieflöhne. Entsprechend höher sind dann auch die BVG-Arbeitgeberbeiträge.

Die Konsequenz bei der Ungleichheit der Arbeitgeberbeiträge ist später die Altersarmut, weil Niedriglohnbezie­hende nur wenig Alterskapital ansparen können. Vor allem viele teilzeitbeschäftigte Frauen haben kaum oder gar nichts von der zweiten Säule. Sie sind fast ausschliesslich auf die AHV angewiesen. Deshalb ist es so wichtig, hier Gegensteuer zu geben, indem die ­sozial ausgestaltete AHV gegenüber der zweiten Säule gestärkt wird.

Quelle: Christoph Lips, Frauendiskriminierung in der Pensionskasse, baumanneconomics.ch/aktuell/)

Stoppt Biden den unsäglichen Steuerwettbewerb?

Hans Baumann17. September 2021

Anfang Jahr hatte US-Präsident Joe ­Biden vorgeschlagen, die Mindest­steuer auf Unternehmensgewinnen global auf 21 Prozent festzusetzen. Die Finanzminister der grössten ­Handels- und Industrienationen haben diesen Vorschlag jetzt im Sommer ziemlich abgeschwächt und sich innerhalb der G 20 auf einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent geeinigt. Gelten würde diese Bestimmung für grosse, international tätige Unternehmen.

SCHUB NACH UNTEN. Die Unternehmenssteuern sind in den letzten Jahren weltweit stark heruntergefahren worden. Seit 1980 hat sich der Steuersatz im Durchschnitt aller OECD-Länder mehr als halbiert und ist von rund 48 auf 23 Prozent gesunken. Neue Steueroasen wie die Cayman-Inseln oder Irland sind entstanden und haben den Steuerwettbewerb zwischen den Ländern angefeuert. Zu diesen Steueroasen zählen viele Schweizer Kantone. Auch in der Schweiz hat sich die Steuerbelastung der Unternehmen mehr als halbiert. Einen Schub nach unten hat es durch die letzte Revision der Unternehmenssteuern (STAV) ge­geben. Dieses Jahr beträgt der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz nur noch 14,9 Prozent, und viele Kan­tone liegen deutlich darunter, so etwa Zug mit 11,9 oder Luzern mit 12,3 Prozent. Für grosse international tätige Firmen oder Holdinggesellschaften gibt es zusätzliche Steuererleichterungen, so dass der Steuersatz je nach Kanton nochmals um bis zu 8 Prozent tiefer sein kann.

MINIMALLÖSUNG. Die Wirkung des ­fatalen Steuerdumpings war nicht nur, dass einzelne Länder Steuereinnahmen an Steueroasen verloren haben, sondern auch, dass die Unternehmenssteuern insgesamt zurückgegangen sind. Als Ausgleich wurden deshalb die Steuern auf Löhnen oder die Mehrwertsteuer erhöht. Vom Mindeststeuersatz von 15 Prozent werden zahlreiche Schweizer Kantone betroffen sein, und die neue Regelung dient einer gewissen Steuerharmonisierung innerhalb der Schweiz. Deshalb ist eine solche globale Regelung ein Fortschritt: im Interesse aller Arbeitnehmenden, deren Steuerbelastung in den letzten Jahren zugenommen hat, und auch der KMU, die nicht das Privileg zusätzlicher Steuererleichterung haben oder ihren Firmensitz in Steueroasen verlegen können.

Wer bekommt die Impfungen?

Wer bekommt die Impfungen?

Hans Baumann21. Mai 2021

Die Impfstoffe gegen das Corona­virus sind ungleich verteilt. Zudem haben einzelne Länder mehr organisatorische Schwierigkeiten als ­andere bei der Durchimpfung der Bevölkerung. Das beklagen wir auch innerhalb der Schweiz, wo einzelne Kantone schneller vorwärtsmachen als andere. In dieser Zeitung (work Nr. 8) wurde aufgezeigt, dass auch die soziale Lage eine grosse Rolle spielt. Weniger privilegierte Menschen sind nicht nur eher von An­steckungen betroffen, weil sie zum ­Beispiel nicht im Homeoffice arbeiten können. Sie haben oft auch mehr Schwierigkeiten, zu den Impfungen zu kommen, weil sie während der ­Arbeitszeit nicht wegkönnen, keinen Zugang zu den Online-Anmelde­portalen haben oder das Verfahren sie sprachlich überfordert.

KRASSE UNTERSCHIEDE. Global ge­sehen, sind diese Ungleichheiten noch viel krasser. Die Grafik zeigt, wie unterschiedlich der Stand der Impfungen ist. Die Schweiz befindet sich etwa in der gleichen Situation wie die umliegenden Länder, die pro 100 Einwohner bis Mitte Mai 40 Impfdosen verabreichen konnten. In der Schweiz wurden damit bisher 12,5 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner vollständig geimpft, 12,5 Prozent ­haben erst eine Dosis erhalten. ­Einige wenige Länder sind bedeutend weiter: Grossbritannien und die USA konnten bisher rund doppelt so viele Impfungen verabreichen, «Impfweltmeister» war und ist Israel. Die Impfstrategie dieser Länder basiert auf ­einem sehr raschen Ankauf von ge­nügend Impfstoff. Klar, dass dies nur auf Kosten anderer Länder möglich ist, solange die Impfproduktion den weltweiten Bedarf noch nicht ­decken kann. In den USA und ­Grossbritannien wird die nationale Impfstrategie durch die Tatsache be­günstigt, dass dort wichtige Pharmakonzerne ihren Hauptsitz haben. ­Zwischen der EU und Grossbritannien kam es deshalb auch zum Streit: So wurden vom europäischen Festland vom letzten Dezember bis April dieses Jahres 21 Millionen Impfdosen nach England exportiert, während in umgekehrter Richtung praktisch nichts kam.

KATASTROPHE. In einer kritischen Lage sind jene Länder, die weniger wirtschaftliche Ressourcen haben und/oder deren politische Machtverhält­nisse eine rasche Durchimpfung ­verunmöglichen. So zum Beispiel in Indien, wo sich die Pandemie inzwischen zu einer Katastrophe ent­wickelt hat. Verständlich, dass Indien dadurch einen grossen Teil der Eigenproduk­tion an Impfstoffen nicht wie vorgesehen exportieren kann, sondern selbst benötigt. Hoffnungslos im Rückstand sind die afrikanischen Staaten wie Ägypten und Uganda.

Zwar sollen bis Ende Jahr auf diesem Kontinent ­wenigstens 20 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Eine gerechtere Verteilung der Impfstoffe wäre also dringend nötig. Jetzt ist die internationale Gemeinschaft gefordert.


Jetzt kommt die Erbschaftssteuer für Arme

2015 lehnte die Stimmbevölkerung die Initiative für eine Erbschaftssteuer deutlich ab. Diese Initiative hätte Erbschaften von über zwei Millionen Franken besteuern wollen. Sie hätte nur rund fünf Prozent der reichsten Vererbenden betroffen. Immer grössere Vermögen sind in den letzten Jahrzehnten vererbt worden, zurzeit dürften es pro Jahr über 100 Milliarden Franken sein.
ARME BLUTEN. Eine Untersuchung der Steuerdaten des Kantons Bern zeigt, dass diese riesige Summe sehr ­ungleich verteilt wird. Zwei Drittel des Volumens aller Erbschaften gehen nämlich an nur 10 Prozent der Begünstigten. Allein das oberste Prozent erhält über einen Drittel des Geld­segens. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um Erbinnen und Erben, die ohnehin schon zu den Begüterten gehören. Auf der anderen Seite erhält die untere Hälfte der Begünstigten nur rund fünf Prozent des gesamten Erbschaftsvolumens.
Während die Erbschaftssteuer für Reiche damals wegen massiven Sperr­feuers und Falschinformationen der Bürgerlichen abgelehnt wurde, wird jetzt ohne grosses Aufsehen eine Art Erbschaftssteuer für Arme eingeführt. Die im Moment rund 340’000 Rentnerinnen und Rentner, die eine Ergänzungsleistung zur AHV (EL) bekommen, gehören zu jener Bevölkerungsgruppe, die über wenig Einkommen und Ver­mögen verfügen. Bei ihnen will man jetzt sparen, indem der Freibetrag beim Vermögen herabgesetzt und eine Vermögensobergrenze eingeführt wird. Auch «übermässiger» Verzehr von Vermögen oder Schenkungen vor dem Pensionsalter werden angerechnet. Das wird dazu führen, dass diese Menschen ihr meist bescheidenes Ver­mögen fast ganz aufbrauchen müssen, bevor sie etwas vererben können. Bekommen die Erbenden trotzdem noch mehr als 40’000 Franken, müssen sie damit die EL-Beiträge zurückerstatten! Dies wird die Ungleichheit bei den ­Erbschaften und den Vermögen in der Schweiz noch verstärken.
Die Erbschaftssteuerinitiative hatte damals vorgesehen, dass zwei Drittel der Erträge der AHV zugute kommen. Davon hätte die AHV-Kasse ungleich mehr profitiert als durch die Erspar­nisse, die man sich durch diese Reform auf Kosten der EL-Beziehenden und ihrer Nachkommen verspricht.

(Quelle: R. Fluder, R. Farys: Vermögende profitieren besonders von Erbschaften, Moneta Nr. 1, 2020. Foto: SNB)

Armut in der «reichen Schweiz»

Arbeitslosigkeit und Armut sind Stichworte, die jetzt in der Coronakrise allgegenwärtig sind, auch in der Schweiz. Arbeitnehmende, die auf Kurzarbeit gesetzt oder entlassen werden, kommen wegen der Einkommenskürzung an oder sogar unter das Existenzminimum. Das gleiche gilt für eine grosse Zahl von Selbständigen, die in den letzten Monaten Verdienstausfälle in Kauf nehmen mussten. Über die Hälfte der Haushalte verfügen über weniger als 50’000 Franken Vermögen, ein Viertel der Bevölkerung besitzt gar nichts oder hat gar Schulden. Eine längere Periode mit Verdienstausfällen können die meisten nicht ohne Hilfe durchstehen, sie haben kaum Reserven.

26. Juni 2020

(Quelle: Armut und materielle Entbehrung (SILC))

KONSTANT HOCH. Wie die Grafik zeigt, ist Arbeitslosigkeit und Armut kein ­neues Phänomen. Bereits in den letzten 10 Jahren, die nach der Finanz­krise eigentlich Jahre der Hochkonjunktur waren, ist die Erwerbslosigkeit kon­stant hoch geblieben. Noch 2018 war die ­Erwerbslosenquote mit 4,7 praktisch gleich hoch wie 2009; erst im letzten Jahr ging sie etwas zurück. Sehr ähnlich sieht es bei der Armutsquote der Erwerbstätigen aus, die seit 2010 etwa gleich blieb. Als arm gelten Erwerbs­tätige, die in einem Haushalt leben, der über weniger als die Hälfte des ­mittleren Einkommens verfügt, 2018 entsprach das bei einem Ein­personenhaushalt 2080, bei einem Vierpersonenhaushalt 4370 Franken. Kein ­Wunder, dass auch jener Teil der Bevölkerung, der auf Sozialhilfe angewiesen ist, in den letzten 10 Jahren nicht kleiner, sondern sogar grösser geworden ist.

50 PROZENT MEHR ARBEITSLOSE. Die Coronakrise hat jetzt zu einer noch nie dagewesenen Anzahl von Kurzarbeitenden und einem gegenüber dem Vorjahresmonat über 50prozentigen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH rechnet bis Anfang 2021 mit einem Anstieg der Erwerbslosenquote auf 6 Prozent, das wäre der höchste Wert der letzten 50 Jahre. Kurzarbeit, ­Arbeitslosigkeit und Erwerbsausfälle könnten viele Familien in den nächsten Monaten in Armut und Abhängigkeit treiben. Die Schweizerische Kon­ferenz für Sozialhilfe rechnet je nach Szenario mit einem Anstieg der Sozialhilfebeziehenden um 70’000 – 100’000 Personen, was die Sozialhilfequote von heute 3,2 auf 4 bis 4,3 Prozent erhöhen würde. Neben den nötigen Ãœberbrückungshilfen braucht es deshalb jetzt Gegenstrategien wie ein sozial- und umweltorientiertes Impulsprogramm, um die Schweizer Wirtschaft schnell wieder aus der Krise zu führen

Corona-Finanzierung: Unternehmen und Wohlhabende sollen bezahlen

Hans Baumann14. Mai 2020

In den letzten Jahrzehnten wurden die Unternehmenssteuern mehr als halbiert. Auch Personen mit hohen und sehr hohen Einkommen wurden steuerlich entlastet. So bezahlte 1980 in der Stadt Zürich ein Paar ohne Kinder mit einem Bruttoeinkommen von einer halben Million fast 30 Prozent oder 150’000 Franken Kantons- und ­Gemeindesteuern. 2018 waren das nur noch 96’500 Franken oder 19,3 Prozent. Bis 2000 gab es noch eine merkbare Teuerung, danach nahm die Teuerung aber kaum mehr zu, die Steuersenkungen waren hingegen ­immer noch beträchtlich.Die Zahlen bei der Einkommenssteuer gelten für die Stadt Zürich, bei den Unternehmenssteuern ist es der Durchschnitt der Kantonshauptorte (siehe Grafik).

(Quellen: ESTV, Kantons- und Gemeindesteuern Zürich, verh. Paar ohne Kinder. Unternehmenssteuern: KPMG, ord. best. Unternehmen, Durchschnitt aller Kantonshauptorte.)

ERTRÄGLICHE VERSCHULDUNG. Sehr viele Kantone und Gemeinden in der Schweiz kennen aber tiefere Steuersätze, in Zug zahlt man bei einem Einkommen von einer ­halben Million zum Beispiel nur halb so viel Steuern wie in Zürich.

Das Corona-Hilfspaket des Bundes wird die öffentliche Hand rund 70 bis 80 Milliarden Franken kosten, wenn man die Mittel, die Kanton und Gemeinden aufbringen sollen, mit einrechnet. Das ist ein grosser Batzen, aber der Bund und die meisten Kan­tone stehen finanziell so gut da, dass ein Teil dieser Hilfe aus den vorhandenen Reserven und ein Teil mittels Neuverschuldung finanziert werden kann, ohne dass dadurch die Verschuldung ein erträgliches Mass übersteigt.

GRÃœNES IMPULSPROGRAMM. Mit dem jetzt bewilligten Hilfspaket ist es aber noch nicht getan. Danach muss die Wirtschaft wieder angekurbelt werden. Dazu braucht es ein sozial und umweltverträgliches Impulsprogramm mit Investitionen in den Klimaschutz, in den Gesundheits- und Pflegesektor ­sowie in die Kinderbetreuung. Dies wird jährlich zusätzliche Milliarden ­kosten und auch mehr Steuermittel brauchen. Keinesfalls dürfen dadurch tiefe und mittlere Einkommen, die jetzt in der Krise schon am meisten durch Kurzarbeit und Erwerbsausfälle gekürzt wurden, mehr belastet werden. Die zusätzlichen Mittel müssen bei jenen eingefordert werden, die in den letzten Jahren von Steuersenkungen profitiert haben: mit einer Sondersteuer auf ­hohen Einkommen, einer Abgabe auf sehr hohen Vermögen und einem ­Solidaritätszuschlag bei den Unter­nehmenssteuern.

Corona-Krise: Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Hans Baumann27. März 2020

Corona: Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den meisten Ländern in den letzten 40 Jahren deutlich an, in der Schweiz bei den Männern um fast zehn Jahre auf 81,7 Jahre, bei den Frauen um gut sechs Jahre auf 83,6 Jahre. In der Regel gibt es einen ­engen Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen eines Landes und der Lebenserwartung. Wenn das Pro-Kopf-Einkommen steigt, steigt auch die Lebenserwartung. Mit der Zunahme des Volkseinkommens nimmt meist die Armut ab und die Gesundheitsversorgung wird verbessert. Dass ist oft so, aber nicht ­immer.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, National Center for Health Statistics, USA)

DROGENTOTE. Dies zeigt der Vergleich der Schweiz mit den USA. In beiden Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahren gestiegen, in den USA sogar stärker als in der Schweiz. In den USA ist aber die Lebenserwartung von Frauen und Männern in den letzten Jahren gesunken. Als Hauptgrund für die zunehmende Sterblichkeit in den USA wurde der Missbrauch von opiathaltigen Schmerzmitteln ausgemacht, der in den 2000er Jahren stark zugenommen und heute gegen 70’000 Drogentote pro Jahr zur Folge hat.

SOLIDARISCHE LÖSUNGEN. Hinzu kommen andere Faktoren wie der ungesunde Lebensstil mit Ãœbergewicht, ­Diabetes, etc. Er ist vor allem bei der ärmeren Bevölkerung verbreitet, die nicht vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren konnte. Dies sind die Gründe, warum die Lebens­erwartung in den USA generell tiefer ist als in der Schweiz. Mit der ­Corona-Krise könnte jetzt auch die ­Lebenserwartung bei uns sinken. Es hängt nun wesentlich davon ab, wie schnell der Anstieg der Infektionen eingeschränkt wird, wann die Fallzahlen wieder abnehmen und ob wir im nächsten Winter erneut vor der gleichen Situation stehen. Sicher ist zudem ein Rückkoppelungseffekt: Die jetzige Einschränkung der Wirtschafts­tätigkeit senkt die Einkommen, was zu einer Zunahme der Armut mit all ­ihren Folgen führen kann. Gefragt sind deshalb nicht nur gesundheitspolitische Massnahmen, sondern auch die Wirtschafts- und Sozial­politik, damit solidarische Lösungen der Krise gefunden und längerfristige Folgen vermieden werden können.

OECD zur Schweiz: Der Staat muss mehr investieren

14. Februar 2020

Die bürgerliche Presse pickt gern jene Ergebnisse aus dem jährlichen Bericht der Organisation für wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) heraus, die ihr in den Kram passen. Im jüngsten Bericht zum Beispiel die Empfehlung, das Rentenalter der demographischen Entwicklung ­anzupassen beziehungsweise zu flexibilisieren.

(Quelle: Eidg. Finanzverwaltung, Finanzstatistik der Schweiz, Div. Jahrgänge)

KNAUSRIG. Der Bericht geht aber auch auf andere, dringende Probleme ein. Wie in anderen Industrieländern sinken oder stagnieren bei uns die ­öffentlichen Investitionen seit vielen Jahren. Das sind Investitionen in die Infrastruktur, also den Verkehr, das Gesundheitswesen, das Bildungs­system usw. Gemessen am Brutto­inlandprodukt sind die öffentlichen Investitionen in der Schweiz nur etwa halb so gross wie im Durchschnitt ­aller Länder, so der OECD-Bericht.

Tatsächlich sind die staatlichen Bruttoinvestitionen – das sind alle Investitionen inklusive Ersatz und Unterhalt bestehender Anlagen – in der Schweiz seit 1997 nur um rund 20 Prozent gestiegen, drei Mal weniger als das Bruttoinlandprodukt. Die staatlichen Investitionen sind gemessen an den gesamten Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden sogar gesunken. Von 2009 bis 2016 verharrten sie bei rund 12 Milliarden Franken. Erst 2017 gab es wieder einen Anstieg auf gut 13 Milliarden.

HERAUSFORDERUNGEN. Der grösste Teil dieser Investitionen geht in die Erneuerung und den Unterhalt der Infrastruktur. Nur Anlagen im Wert von ein bis zwei Milliarden waren tatsächliche Neuinvestitionen, haben also das «Volksvermögen» vermehrt. Das ist bedeutend weniger als in den 1990er Jahren. In der gleichen Zeit erhöhten sich in der Schweiz die Privatver­mögen um etwa 130 Milliarden pro Jahr, das ist rund 100 Mal mehr! Dabei gäbe es viel zu tun: Der OECD-Bericht empfiehlt, vor allem dort mehr zu investieren, wo grosse Herausforderungen auf uns zukommen. Bei der ­Klimawende, der Alterung der ­Bevölkerung, bei der Bildung und Kinder­betreuung. Höhere öffentliche Investitionen hätten auch eine nütz­liche Auswirkung auf die Geldpolitik und würden einer Aufwertung des Frankens entgegenwirken.

HERAUSFORDERUNGEN. Der grösste Teil dieser Investitionen geht in die Erneuerung und den Unterhalt der Infrastruktur. Nur Anlagen im Wert von ein bis zwei Milliarden waren tatsächliche Neuinvestitionen, haben also das «Volksvermögen» vermehrt. Das ist bedeutend weniger als in den 1990er Jahren. In der gleichen Zeit erhöhten sich in der Schweiz die Privatver­mögen um etwa 130 Milliarden pro Jahr, das ist rund 100 Mal mehr! Dabei gäbe es viel zu tun: Der OECD-Bericht empfiehlt, vor allem dort mehr zu investieren, wo grosse Herausforderungen auf uns zukommen. Bei der ­Klimawende, der Alterung der ­Bevölkerung, bei der Bildung und Kinder­betreuung. Höhere öffentliche Investitionen hätten auch eine nütz­liche Auswirkung auf die Geldpolitik und würden einer Aufwertung des Frankens entgegenwirken.

Familien zahlen mehr Krankenkasse als Steuern

15. November 2019

Die hohen Krankenkassenprämien ­belasten unsere Haushaltsbudgets ­extrem, das wissen vor allem jene, die eine Familie mit Kindern durchbringen müssen. Bei einem mittleren Einkommen müssen Familien in den meisten Kantonen sogar mehr für die Krankenkasse aufwenden als für alle Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern zusammen. Das gilt zum Beispiel für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 125’000 Franken. Dies entspricht ­einem steuerbaren Einkommen von etwa 87’000 Franken. Das ist in der Schweiz ziemlich genau das mittlere Haushaltseinkommen einer Familie dieser Grösse. Im Schweizer Durchschnitt zahlt sie pro Jahr 11 200 Franken Krankenkasse und 10’900 Franken Steuern. Dies beinhaltet nur den obligatorischen Teil der Kranken­kassenprämie, ohne Zusatzversicherung. Bei diesem Einkommen gibt es auch keinen Anspruch auf Prämien­verbilligung.

(Quellen: BfS, Einkommens- und Vermögenssteuern der natürlichen Personen, 2018; BAG, Prämienregionen 2020.)

Nur in einigen Kantonen mit relativ ­hohen Steuern wie im Kanton Bern oder im Jura sind die Steuern höher als die Krankenkassenprämie. Die ­Unterschiede zwischen den Kantonen sind nicht nur bei der Steuerbelastung, ­sondern auch bei den Krankenkassenprämien hoch. So bezahlt etwa in ­Basel-Stadt eine Familie 70 Prozent mehr Prämie als im Kanton Uri.

EXTREME UNGLEICHHEIT. Da oft Kan­tone mit einer relativ hohen Steuerbe­lastung auch hohe Krankenkassen­prämien haben, ergibt dies enorme Unterschiede. Die Gesamtbelastung ist für die gleiche Familie in Neuenburg fast zweieinhalb Mal so gross wie in Zug. Oder in Bern rund 50 Prozent ­höher als im Kanton Schwyz. Der Grundsatz in Artikel 8 der Bundesverfassung â€“ «alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» – gilt offensichtlich weder für das Steuergesetz noch für das Krankenversicherungsgesetz. Der hohe Anteil der Krankenkassenprämien und die Unterschiede zwischen den Kantonen sind auch die Gründe dafür, dass unser Steuersystem nur eine geringe Umverteilungswirkung zwischen Arm und Reich hat. Es ist Zeit, dies zu ändern. Mit einer wirksamen Steuerharmonisierung oder der Krankenkasseninitiative der SP. Diese will die Prämienbelastung auf 10 Prozent des steuerbaren Einkommens begrenzen.

Viele Frauen möchten mehr arbeiten

27. September 2019

Während die Schweiz punkto Erwerbslosigkeit mit 4,7 Prozent immer noch relativ gut abschneidet, sieht es bei der Unterbeschäftigung ganz anders aus. Als unterbeschäftigt gelten jene Personen, die in einem Teilzeitpensum sind, aber eigentlich mehr arbeiten möchten. Dies sind zu einem grossen Teil Frauen. Mit 7 Prozent (Frauen 10,8 Prozent) hat die Schweiz die höchste Unterbeschäftigungsquote in Europa. Im EU-Durchschnitt sind es nur 3,4 Prozent.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, Schweiz. Arbeitskräfteerhebung (SAKE))

STILLE RESERVE. Insgesamt waren 2018 in der Schweiz 587’000 Personen erwerbslos oder unterbeschäftigt. Hinzu kommen 243’000 Personen der sogenannten stillen Reserve. Das sind insbesondere Menschen, die aus verschiedenen Gründen keine Arbeit ­suchen, aber eigentlich für den ­Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Auch hier gibt es mehr Frauen als Männer. Als Ursache werden am häufigsten ­«familiäre Gründe» angegeben. Weiterbildung oder die Hoffnungslosigkeit, je wieder eine Stelle zu finden, sind ­andere Gründe. Dazu braucht es allerdings eine wichtige Fussnote: Die Statistik befasst sich an dieser Stelle nur mit Erwerbsarbeit. Bekanntlich werden in der Schweiz etwa gleich ­viele Stunden Gratisarbeit geleistet wie Lohn­arbeit. Besonders viele «unterbeschäftigte» Frauen arbeiten in Tat und Wahrheit ganz viel, indem sie Kinder betreuen, alte Menschen pflegen oder Hausarbeit leisten. Der Wunsch vieler wäre aber, mehr auf ­ihrem Beruf tätig zu sein und einen ­ordentlichen Lohn für ihre Arbeit zu bekommen. Insgesamt gibt es also rund 830’000 Personen, die in der Schweiz erwerbslos und unterbeschäftigt sind oder der sogenannten stillen Reserve angehören. Das sind 17 Prozent der Erwerbsbevölkerung!

RIESIEGES POTENTIAL. Diese Zahl steht im Widerspruch zu den Befürchtungen, dass es immer weniger Erwerbstätige durch Ãœberalterung gebe und deshalb unsere Sozialwerke bedroht seien. 830’000 Menschen sind ein riesiges Potential. Würde auch nur ein Teil dieser Reserve ausgeschöpft, wäre die AHV gesichert, und wir be­nötigten weder ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent noch eine ­Erhöhung des Frauenrentenalters. Mit einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zum Beispiel durch bezahlbare Krippen und Tagesschulen, könnten bereits ein grosser Teil der «unter­beschäftigten» Personen wieder einem bezahlten Beruf nachgehen oder ihr Pensum erhöhen.

ProfProfite steigen, doch Reallöhne sinken deutlich

Profite steigen, Reallöhne sinken deutlich

28. Juni 2019

Die Löhne sind in den letzten zwei ­Jahren kaum mehr gestiegen. Zwar konnten die Gewerkschaften in den Gesamtarbeitsverträgen noch geringe Lohnerhöhungen aushandeln, im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige ­erhöhten sich die Löhne 2017 und 2018 aber nur um knapp ein Prozent. Das entspricht etwa den ausgehandelten Lohnerhöhungen in den GAV. Da die Teuerung in den zwei Jahren 1,4 Prozent betrug, resultierte für die ­Arbeitnehmenden zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Kaufkraftverlust. In den Jahren zuvor war das noch anders: Eine negative Teuerung sorgte dafür, dass die Kaufkraft leicht zunahm.

(Quelle: Lohnindex BfS)

BRANCHENUNTERSCHIEDE. Zwischen den Branchen, in denen die Unia vertreten ist, gibt es deutliche Unterschiede. In der Industrie weist nur die Chemie- und Pharmabranche eine ­positive Lohnentwicklung auf. Ãœberdurchschnittlich sind die Kaufkraft­verluste im Metallgewerbe sowie der ­Uhren- und Maschinenindustrie. Von den Dienstleistungsbranchen schneidet neben dem Finanzsektor der Detailhandel am besten ab. In dieser Branche mit einem hohen Frauen­anteil gab es nur einen geringen Kaufkraftverlust.

8,3 PROZENT MEHR PROFIT. Schlecht schnitten der Verkehrssektor sowie die Post- und Kurierdienste ab, wo der Reallohnrückgang 1,2 Prozent betrug. Die GAV-Abschlüsse 2018/2019 lassen für dieses Jahr keine deutliche Verbesserung der Situation der Lohnabhän­gigen erwarten. Bei einer voraussicht­lichen Teuerung von 0,6 Prozent ­dürfte nur eine geringe Zunahme der Kaufkraft resultieren.

Die Gewinnerinnen der letzten zwei Jahre ­waren eindeutig die Unternehmen. Die Nettogewinne stiegen laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung von rund 113 Milliarden Franken im Jahr 2016 auf über 124 Milliarden im letzten Jahr. Das ist ein Zuwachs von fast 10 Prozent, und unter Berücksichtigung der Teuerung bleibt immer noch eine Erhöhung der Profite um 8,3 Prozent. Dies steht in krassem Gegensatz zum Lohnabbau, die Verteilung des Wohlstands hat sich also deutlich von der Arbeit zum Kapital verschoben. Es ist Zeit, sich dieses Geld bei der kommenden Lohnrunde wieder zurückzuholen. Reserven sind bei den Unternehmen vorhanden.

Die Schweiz: Ein Steuerparadies nur für Reiche

Die Schweiz: Ein Steuerparadies nur für Reiche

17. Mai 2019

Die Fiskalquote misst alle Steuern und Abgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt oder dem Volkseinkommen. Dabei sind auch die ­Sozialabgaben an AHV, ALV usw. Dies ist ein Mass für die Grösse des staatlichen Sektors, da die Einnahmen des Staates und der Sozialversicherungen auch ungefähr den gesamten Ausgaben entsprechen sollten.

(Quellen: Eidg. Steuerverwaltung, BAG, OECD)

RICHTIG RECHNEN. Bei internationalen Vergleichen scheint die Schweiz immer eine der tiefsten Fiskalquoten aller Länder zu haben. Für 2016 wird von der offiziellen Statistik eine von 27,6 Prozent ausgewiesen, im Mittel aller Industrieländer (OECD) beträgt die so gerechnete Fiskal­quote 34,4 Prozent.

Ist die Schweiz folglich ein Steuer­paradies mit einem kleinen staatlichen Sektor? Das ist ein statistischer Irrtum. Denn bei den gängigen Vergleichen werden in der Regel nur die Sozialabgaben an staatliche Institu­tionen wie die AHV mitgerechnet. Die obligatorischen Abgaben an andere Sozialversicherungen, wie bei uns die Krankenkassen und die berufliche Vorsorge, sind bei diesen Vergleichen nicht enthalten. Rechnet man diese hinzu (in der Grafik als «Sozialabgaben 2» bezeichnet), sieht die Geschichte ganz anders aus. Die so gerechnete Fiskalquote steigt in der Schweiz auf 41,7 Prozent, ein im europäischen Rahmen ganz durchschnittlicher Wert, der sogar deutlich über dem OECD-Mittel liegt.

REICHE PROFITIEREN. Dank den tiefen Unternehmenssteuern bleibt die Schweiz allerdings ein Steuerparadies für Unternehmen. Auch Grossverdiener profitieren von der relativ geringen Progression bei der Einkommenssteuer sowie der wenig sozialen Ausgestaltung der zweiten Säule und der Krankenversicherung. Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Einkommen entrichten jedoch hohe Beiträge an Staat und Sozial­institutionen, vor allem an die beruf­liche Vorsorge und die Krankenver­sicherung. Insgesamt werden sie genauso zur Kasse gebeten wie in anderen Ländern. Oder sogar mehr.

Frauen häufiger arbeitslos als Männer

29. März 2019

Die Erwerbslosenstatistik misst die Arbeitslosigkeit in der Schweiz gemäss einem international vergleich­baren Standard. Dabei schneidet die Schweiz nicht so gut ab, wie viele meinen. Länder wie Deutschland und Grossbritannien haben inzwischen eine tiefere Arbeitslosigkeit. Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich benachteiligt, nicht nur beim Lohn. In den letzten 25 Jahren war die Frauenarbeitslosigkeit immer höher als diejenige der Männer. Seit 2004 bewegt sie sich immer etwa auf dem Niveau von 5 Prozent, und dort verharrt sie bis heute.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, Erwerbslosenquote gemäss ILO)

UNTERBESCHÄFTIGT. Bei den Männern schwankt die Erwerbslosenquote je nach Konjunktur viel mehr und be­wegte sich zwischen 2,8 und maximal
4,8 Prozent. Zudem ist die sogenannte Unterbeschäftigung bei Frauen ungleich höher. Das heisst: Viele Frauen, die Teilzeit arbeiten, möchten eigentlich ein grösseres Pensum haben. Von Unterbeschäftigung betroffen sind ­aktuell 11.4 Prozent aller erwerbs­tätigen Frauen. Diese Zahl ist rund drei Mal höher als bei den Männern!

FAMILIENARBEIT. Je nach Lebensalter ist die Betroffenheit von Frauen und Männern ganz verschieden: Nur bei den Jungen ist die Arbeitslosigkeit bei Männern mit 8,4 Prozent höher als bei Frauen. Das kann damit zusammenhängen, dass mehr Frauen an Hochschulen gehen, länger in der Ausbildung sind und noch nicht in der Statistik erscheinen.

Ab 25 dreht das. Männer finden Jobs, und die Erwerbslosigkeit halbiert sich. Bei den Frauen ist der Rückgang viel weniger stark, und die Erwerbslosenquote bleibt bis 54 markant höher als bei den Männern. Hier wirken sich offensichtlich die Erwerbsunterbrüche durch Familienarbeit aus. Es ist oft schwierig, passende Teilzeitstellen zu finden oder nach einem Unterbruch wieder in den Beruf einzusteigen.

Ab 55 sind dann Männer wieder mehr von Arbeitslosigkeit betroffen. Offensichtlich werden Arbeitnehmende in ­typischen «Männerberufen» eher ­entlassen, etwa wegen sogenannter Umstrukturierungen. Wie beim Lohn gilt auch bei der Arbeitslosigkeit, dass der Kampf gegen Diskriminierung in erster Linie bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ansetzen muss. Das nützt beiden, den Frauen und den Männern.

Immobilienmarkt: Crash oder sanfte Landung?

15. Februar 2019

Bis vor wenigen Monaten sind die Liegenschaftspreise und die Wohnungsmieten in der Schweiz rasant gestiegen. Rekordtiefe Zinssätze haben es auch Mittelstandsfamilien erlaubt, Wohnungen zu kaufen anstatt zu mieten. Zum ersten Mal ist in der Schweiz der Anteil der Eigentumswohnungen am Gesamtwohnungsbestand auf über 40 Prozent gestiegen. Aber auch private Investoren, Firmen und Pensionskassen haben immer häufiger in Liegenschaften oder Immobilienfonds als lukrative Anlageobjekte investiert. Das hat die Immobilienblase zusätzlich aufgebläht. In den letzten Jahren wurden Hunderttausende von neuen Wohnungen und Bürogebäuden gebaut.

(Quelle: UBS Global Real Estate Bubble Index)

EUROPAWEIT. In vielen Ländern Europas verlief die Entwicklung ähnlich. Kein Wunder, dass die Angst vor einem Immobiliencrash umgeht. Die Erinnerung an 2007 sind wach. Damals löste der Immobiliencrash in den USA eine weltweite Krise aus. Was passiert, wenn die Nationalbank im Schlepptau der Europäischen Zentralbank die Zinsen erhöhen muss? Was passiert, wenn plötzlich Tausende von Liegenschaften leer stehen oder Bauruinen bleiben? Tatsächlich ist der Leerwohnungsbestand vor allem ausserhalb der Agglomerationen deutlich gestiegen, und die Vermietenden locken teilweise mit attraktiven Rabatten, um ihre Wohnungen los zu werden.

MITTELFELD. Im Moment deutet in der Schweiz alles eher auf eine sanfte Landung als einen Crash hin: Letztes Jahr wurden deutlich weniger Wohnungen gebaut, trotzdem steht die Bau­tätigkeit nicht still, sondern produziert auf einem tieferen Niveau weiter. Die Liegenschaftspreise und Mieten ­haben sich etwas beruhigt, sind aber nicht im freien Fall. Zinserhöhungen sind zu erwarten, aber kaum schub­weise. Laut «Blasenrisiko-Index» der UBS, der die Abweichung der Liegenschaftspreise von anderen Indikatoren wie Konsumentenpreisen oder Einkommen misst, liegen Schweizer Grossstädte international im Mittelfeld. Die Liegenschaften sind zwar stark überbewertet, das Blasenrisiko ist in anderen Städten aber bedeutend höher. Für junge Familien, die in einer Stadt eine Wohnung suchen, ist dies ein schwacher Trost. Bezahlbare Wohnungen sind dort nach wie vor ein knappes Gut.

Klimaabgaben: Ein sozialer Ausgleich ist nötig

14. Dezember 2018

Ganz knapp hat der Nationalrat ein Ziel für die Beschränkung des CO2-Ausstosses im Inland abgelehnt. ­Damit setzte sich die Rechte gegen den Antrag des Bundesrates durch, der mindestens 30 Prozent der gesamten Reduktion im Inland einsparen wollte. Ein grosser Rückschritt, wenn dies der Ständerat nicht noch korrigiert! Spätestens nach dem letzten heissen und trockenen Sommer ist für die meisten klar, dass wir auch im Inland den Ausstoss von Treibhaus­gasen ver­mindern müssen. Denn nur so können wir die CO2-Ziele erfüllen und damit unseren Beitrag gegen die Klima­katastrophe leisten.

(Quelle: WWF)

FLIEGEN & HEIZEN. Transport und ­Verkehr verursachen in der Schweiz 45 Prozent des Klimaeffekts, davon die Luftfahrt allein 18 Prozent. Haushalte und Industrie liegen an zweiter Stelle mit 31 Prozent. Das ist zum grossen Teil auf das Heizen mit fossilen Brennstoffen zurückzuführen. Für eine Reduktion der Treibhausgase im Inland müssen also vor allem die Belastung durch den Verkehr und der Energieverbrauch in den Gebäuden ­reduziert werden. Dabei sollen neben ­Fördermassnahmen auch Abgaben eingeführt werden, beim Verkehr zum Beispiel eine Abgabe auf Benzin, ­Diesel und Kerosin. Diese Abgaben würden die Treibstoffpreise und damit mittelfristig auch das Autofahren und Fliegen teurer machen.

Längerfristig kann sich das ausgleichen, indem auf effizientere und damit auch wieder günstigere Alternativen umgestiegen wird (etwa Elektro- statt Benzinmotoren). Die massiven Proteste in Frankreich zeigen, dass die stärkere finan­zielle Belastung durch solche Abgaben nicht einfach so hingenommen wird. Vor allem Familien mit tiefen bis mittleren Einkommen spüren höhere Abgaben auf Treibstoffen empfindlich. Die Abgaben müssen aber eine gewisse Höhe haben, damit sie überhaupt wirken. Soll die Mehrheit für eine solche Politik gewonnen werden, ist eine soziale Abfederung nötig. Wie heute schon bei der CO2-Abgabe auf fossilen Brennstoffen muss die Mehrbelastung zum Beispiel durch eine Senkung der Krankenkassenprämien oder etwa durch Steuersenkungen für untere und mittlere Einkommen kompensiert werden.

Vaterschafts-/Elternurlaub: Schweiz ist Schlusslicht

14. September 2018

Als Gegenvorschlag zur Initiative für vier Wochen Vaterschaftsurlaub schlägt die Ständeratskommission als «Kompromiss» zwei Wochen vor. Das wäre zwar ein Fortschritt gegenüber den ein bis zwei Tagen, auf die ein ­Vater heute Anspruch hat. Aber im Vergleich mit anderen Ländern ist dieser Vorschlag lächerlich. Wohl in keinem anderen Bereich ist der Rückstand der Schweiz auf das übrige Europa grösser als beim Mutterschafts-, Vaterschafts- und Elternurlaub. In den meisten Ländern gibt es einen Mix aus diesen drei Urlaubsarten, und die Einzelheiten, etwa die Entschädigungshöhe, sind verschieden.

Vaterschaftsurlaub: Schweiz ist Schlusslicht

AM SCHWANZ. Aber eines ist klar: Die Schweiz wäre mit ihren 14 Wochen Mutterschaftsurlaub und den vor­gesehenen zwei Wochen Vaterschaftsurlaub immer noch das absolute Schlusslicht nach 32 EU- und EFTA-Ländern. Dies vor allem, weil alle EU-Länder in den letzten Jahren eine EU-Richtlinie umsetzen mussten, die ­einen Elternurlaub festschreibt.

JOB-GARANTIE. Ã–sterreich zum Beispiel kennt zusätzlich zum Mutterschafts­urlaub von 16 Monaten einen Eltern­urlaub von zwei Jahren. Dieser kann wahlweise von der Mutter oder vom ­Vater beansprucht werden. Es besteht für die ersten 12 Monate ein Anspruch auf 80 Prozent des bisherigen Lohnes. Wahlweise kann aber auch eine Entschädigung von zwischen 436 und 800 Euro pro Monat für die gesamten zwei Jahre beansprucht werden.

In anderen Ländern wie etwa Finnland ist der Elternurlaub kürzer («nur» 6 Monate), dafür gibt es zusätzlich noch einen Vaterschaftsurlaub von 9 Wochen. Für beide Urlaube gibt es eine Entschädigung von 70 bis 75 Prozent des Lohnes. Auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern sind die Bedingungen ungleich besser als in der Schweiz, so etwa in Slowenien mit 28 Wochen Eltern- und 7 Wochen Vaterschaftsurlaub. Alle Länder haben gemeinsam, dass Väter oder Mütter nach Ablauf des Urlaubes wieder zu den gleichen Bedingungen weiterbeschäftigt werden müssen, und die meisten Modelle kennen auch die Möglichkeit von Teilzeitarbeit anstelle eines Vollurlaubs. Der Nachholbedarf der Schweiz in diesem für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie so wichtigen Bereich ist gewaltig. Ein Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen genügt deshalb bei weitem nicht.

Bund belegt: Reiche werden reicher, Arme zahlreicher

17. August 2018

Die neuste Bundessteuer-Statistik zeigt es deutlich: Die Reichsten in der Schweiz werden immer reicher. Unterdessen besitzt das reichste Prozent der Steuerzahlenden fast 42 Prozent des gesamten Vermögens. Das sind über 730 Milliarden Franken und ein neuer Rekord. Die anderen 99 Prozent müssen sich in den Rest teilen. Auf der unteren Stufe der Wohlstands­pyramide sieht es ganz anders aus. Die Anzahl jener, die Sozialhilfe beanspruchen müssen, und auch ihr Anteil an der Bevölkerung haben seit 2010 deutlich zugenommen. Die Sozialhilfequote stieg von 3 auf 3,3 Prozent. Grund für den nochma­ligen Anstieg im Jahr 2016 waren übrigens nicht ausschliesslich die ­höheren Flüchtlingszahlen. Die Zahlen gingen bei Schweizerinnen und Schweizern ungefähr gleich stark nach oben.

(Quelle: BFS, Sozialhilfestatistik und Statistik über Armut und materielle Entbehrung (SILC))

ARM TROTZ JOB. Noch stärker zugenommen haben die Working Poor, und dies vor allem in den Jahren 2015 und 2016. Das sind jene Menschen, die trotz Erwerbsarbeit arm sind. Seit 2010 ist die Quote der Erwerbstätigen, die armutsgefährdet sind, von 3,4 auf 4,5 Prozent gestiegen. Rund 150 000 Personen erzielen trotz Arbeit kein existenzsicherndes Einkommen. Das betrifft vor allem auch Familien, in denen rund 50’000 Kinder in Armut aufwachsen.

BESCHÄMEND. Im internationalen Vergleich ist der Anteil der Sozialhilfebeziehenden und der armen Erwerbstätigen zwar nicht besonders hoch. Aber wir leben in einem Land, in dem sich in den letzten 10 Jahren die Anzahl Personen, die über 10 Millionen Franken besitzen, verdoppelt hat. Und es ist beschämend, wenn einige Privilegierte in diesem Ausmass reicher werden und gleichzeitig die Armut nicht ab-, sondern zunimmt.

Die Politik reagiert darauf nicht, indem sie die Ursachen bekämpft, nämlich die ungerechte Einkommens- und Ver­mögensverteilung. Im Gegenteil, es werden neue Steuerschlupf­löcher für Reiche und Unternehmer geschaffen, während die Sozialhilfe gekürzt und bei den Sozialwerken gespart wird.

Mitwirkung: GAV sind besser als Gesetz

18. Mai 2018

Die Mitwirkungsrechte der Arbeit­nehmenden sind in der Schweiz, ver­glichen mit den meisten anderen europäischen Ländern, bescheiden. Das gilt insbesondere für die Mit­bestimmung auf Unternehmensebene. Die gibt es bei uns von wenigen Ausnahmen abgesehen gar nicht. Aber auch auf Betriebsebene gilt: In den meisten Ländern sind die im Gesetz geregelten Rechte für Arbeitnehmervertretungen besser, auch weil es dafür EU-Mindeststandards gibt, die in der Schweiz nicht gelten.

INDUSTRIE. Auf den zweiten Blick sieht die Situation in der Schweiz allerdings etwas besser aus, weil zahlreiche Mitwirkungsrechte zwar nicht im Gesetz, dafür aber in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) geregelt sind und teilweise über das Gesetz hinausgehen. Vor allem in der Industrie haben Betriebskommis­sionen eine lange Tradition, und in den Verträgen wurden schrittweise mehr Rechte verankert. So zeigt eine neue Untersuchung der Universität Zürich, dass der Anteil von GAV, in denen Mitwirkungsrechte geregelt sind, deutlich zugenommen hat. Waren es 1971 erst 36 Prozent der GAV, die Mitwirkungsklauseln enthielten, nahm dieser Anteil bis Mitte der 1980er Jahre auf 49 Prozent zu – und liegt heute bei 60 Prozent. Führend dabei ist immer noch der industriell-gewerbliche Sektor mit 66 Prozent, vor dem tertiären Sektor mit einem Anteil von 57 Prozent.

AUFWEICHUNG? Zu den Mitwirkungsklauseln in den GAV gehören zum
Beispiel erleichterte Verfahren für die Wahl der Personalkommission (PK) oder ein besserer Kündigungsschutz für PK-Mitglieder. Eine lange Tradition hat auch die Delegation der betrieb­lichen Lohnverhandlungen an die PK und die Kompetenz, über Abweichungen vom Gesamtarbeitsvertrag zu verhandeln. Beides Rechte, die in den Gewerkschaften umstritten sind, weil sie auch zu einer Aufweichung des jeweiligen GAV führen können. Die Teilnehmenden einer Tagung von Gewerkschaftsbund und SP zur Wirtschaftsdemokratie waren sich trotz den kleinen Fortschritten in den letzten 40 Jahren einig: Das ist zu wenig, es braucht mehr Mitbestimmung in der Schweiz!

Chancengleichheit: Schweiz schneidet schlecht ab

29. März 2018

Die Einkommen und vor allem die ­Vermögen sind in der Schweiz un­gleicher verteilt als in anderen ­Ländern. Das wäre halb so schlimm, könnte man sagen, wenn alle im ­Verlaufe ­ihres Lebens die gleiche Chance hätten, auch einmal zu den Reicheren zu gehören. Oder wenn­ ­wenigstens in der nächsten Genera­tion alle die gleichen Chancen hätten aufzusteigen.

(Quelle: Föllmi/Martinez, die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz, UBS Center Public Paper Nr. 6)

VERERBTE CHANCEN. In ihrer Studie zeigen Reto Föllmi und Isabel ­Martinez (sie ist seit 2017 Ökonomin beim SGB), dass wir davon weit ­entfernt sind. Bei der sogenannten sozialen Mobilität schneidet die Schweiz schlecht ab. Wenn die Eltern zu den untersten 10 oder 20 Prozent in der Einkommenspyramide gehören, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch ihre Kinder dort verharren. Das gleiche gilt auch für das reichste ­Prozent der Bevölkerung, das seine soziale Stellung meist auf die Kinder vererbt. In den USA ist die Chance auf einen Aufstieg ähnlich gering wie in der Schweiz. Dies hat vor allem mit den ungleichen Bildungschancen zu tun. Kinder von Eltern aus der 1. Bildungsstufe (ohne Berufsbildung) ­haben in der Schweiz nur eine geringe Chance, eine tertiäre Bildung (mit Hochschulabschluss) zu absolvieren und damit auch in eine hohe ­Ein­kommensstufe zu gelangen. ­Andere europäische ­Länder, insbesondere die nordischen, schneiden hier weit ­besser ab. In der Schweiz ­verharren 33 Prozent der ­Kinder von Eltern der 1. Bildungsstufe in dieser Stufe, in Schweden nur 14 Prozent. Nur 17 Prozent können in der Schweiz von dort in die dritte Stufe aufsteigen, in Schweden sind es 29 Prozent.

Immerhin die Hälfte der Kinder kann ­hierzulande eine Berufslehre machen, die ja auch einen gewissen Aufstieg in der Lohnskala bedeutet.

Die Ungleichheit bei den Bildungschancen hat in der Schweiz auch mit dem hohen Anteil von Kindern mit ­Migrationshintergrund zu tun. Ihre ­soziale und vor allem auch sprach­liche Benachteiligung könnte durch eine bessere und bezahlbare Kinderbetreuung, Tagesschulen und Förderprogramme vermieden ­werden. Aber hier fehlt oft der politische Wille.

Löhne in Osteuropa holen endlich auf

16. Februar 2018

Die meisten Länder Mittel- und Osteuropas kamen in der ­Finanzkrise und der darauf folgenden Verschuldung arg unter die Räder. Die Leid­tragenden waren die Lohnabhängigen: Bis vor wenigen Jahren nahm die Arbeitslosigkeit stark zu, die Löhne stagnierten oder sanken sogar, und die Arbeitsbedingungen verschlech­terten sich massiv. Für die Menschen war das fatal. Als politische Folge machten sich Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit breit.

GEDREHT. In den letzten Jahren scheint der Wind gedreht zu haben. Das Bruttoinlandprodukt nimmt in Mittel- und Osteuropa seit den Jahren 2012/2013 wieder zu, und für 2017 hat das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche ein Wachstum von 4 Prozent errechnet. Das ist höher als erwartet und auch deutlich höher als in Westeuropa. Positiv hat sich das auf den Arbeitsmarkt aus­gewirkt.

ERFREULICH. Die Arbeitslosenzahlen sind seit etwa vier Jahren rückläufig, sehr deutlich in den Ländern Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei, etwas weniger in Rumänien.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Resultat der Beschäftigungszunahme. In einigen Ländern wie etwa Ungarn hat die Emigration ebenfalls zu weniger Arbeits­losigkeit beigetragen. Auch die Löhne haben in den letzten vier Jahren deutlich zugelegt und den Rückstand gegenüber dem Westen etwas verkleinert. Da dies aber von einem tiefen Niveau ausging, ist der Abstand vor allem in Bulgarien und Rumänien immer noch gross. Immerhin rechnet das Wiener Institut auch für die kommenden Jahre mit einer höheren Zunahme der Einkommen als im Westen.

So sollen etwa in Tschechien die Ein­kommen bis 2026 auf 90 Prozent des EU-Durchschnitts ansteigen. Der Aufschwung ist also im Binnenmarkt durch höhere Löhne und ein höheres Konsumniveau gestützt und nicht nur export- oder finanzgetrieben. Dies ist ein Zeichen dafür, dass es sich um eine stabilere Entwicklung handelt als in der letzten Boomphase vor der Finanzkrise. In einigen Branchen spricht man bereits von akutem Arbeitskräftemangel. Deshalb sind in Zukunft weniger Leute gezwungen, in Westeuropa Arbeit zu suchen.

Steuervorlage 17: Alter Wein in neuen Schläuchen

2. November 2017

Seit 1990 sind die Reingewinne der Schweizer Kapitalgesellschaften von rund 40 auf über 330 Milliarden Franken gestiegen. Das ist zu einem Teil auf die Zunahme der steuerprivilegierten Holdings und anderer Sonder­gesellschaften zurückzuführen. Von den gesamten Reingewinnen werden deshalb deren Beteiligungsgewinne abgezogen, weil diese schon einmal versteuert wurden. Was übrigbleibt, ist dann der steuerbare Reingewinn. Aber auch diese Nettogewinne sind seit 1990 stark gestiegen, nämlich von 26 auf 113 Milliarden Franken. Sie haben sich also mehr als ver­vierfacht! Zum Vergleich: Die Löhne stiegen im gleichen Zeitraum nur um rund einen Drittel.

STEUERGESCHENKE. Ebenfalls nicht mithalten konnten die Steuereinnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Die Steuereinnahmen aus Kapitalgesellschaften erhöhten sich von rund 8 auf knapp 20 Milliarden. Sie sind nur ungefähr halb so schnell gestiegen wie die Nettogewinne. Die Steuerbelastung der Unternehmen hat sich also fast halbiert. Ursache dafür sind die vielen Steuergeschenke, die Bund und Kantone den Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren gewährt haben.

SO NICHT. Das Volk hat die Unternehmenssteuerreform III versenkt. Jetzt hat das Finanzdepartement einen neuen Vorschlag gemacht. Er heisst Steuervorlage 17 – und ist alter Wein in neuen Schläuchen. Zwar ist man den Gegnerinnen und Gegnern der USR III ein bisschen entgegengekommen. Aber immer noch können Unternehmen mit den neuen Instrumenten des Forschungsabzugs und der Patentbox bis zu 70 Prozent Steuern sparen. Entlastet werden weiterhin auch Gross­aktionäre: Sie müssen ihre Dividendeneinnahmen nur teilweise versteuern. Gar nicht angerührt hat das ­Finanzdepartement den grossen ­Beschiss der Unternehmenssteuer­reform II: Dividendeneinnahmen aus Kapitaleinlagen bleiben weiterhin
unversteuert. Seit 2011 wurden so 549 Milliarden Franken völlig steuerfrei an ­Aktionäre ausgeschüttet.

So geht es nicht! In einer neuen Vor­lage dürfen Unternehmen nicht weiter entlastet werden, und die Steuerprivilegien der Aktionäre müssen weg.

Für Frauen ist die AHV entscheidend

15. September 2017

Endlich, nach jahrzehntelangen Versuchen, die Altersvorsorge zu erneuern, legen Bundesrat und Parlament der Stimmbevölkerung ein Projekt vor, das grosse Chancen hat, angenommen zu werden und die Altersvorsorge für die nächsten Jahrzehnte zu sichern.

BEDEUTUNG DER AHV. Ein umstrittener Punkt bei der Finanzierung ist die Erhöhung des Pensionsalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre. Dies wird von vielen zu Recht kritisiert, weil die Frauen beim Lohn und bei den Renten benachteiligt sind. Und jetzt sollen die Frauen mit der Erhöhung ihres Rentenalters auch noch diese Reform finanzieren? Hier gibt es wichtige Gegenargumente, da auch die Frauen durch die Altersreform wesentliche Gegenleistungen erhalten: Heute macht der Anteil der AHV bei den Rentnerinnen fast 80 Prozent aus. Nur 20 Prozent werden durch die zweite Säule finanziert. Deshalb bekommen die Frauen im Durchschnitt wesentlich weniger Rente. Bei den Männern beträgt der Anteil der AHV 57 Prozent, derjenige der zweiten Säule über 40 Prozent. Das unterstreicht zum einen die allgemeine Bedeutung der AHV für die Altersvorsorge, die insgesamt einen Anteil von 70 Prozent an den Gesamtrenten hat. Es wird aber auch deutlich, dass für die Frauen die vorgesehene Erhöhung der AHV um 70 Franken pro Monat noch wichtiger ist als für die Männer.

Quelle: Robert Fluder u.a., Gender Pension Gap in der Schweiz, Forschungsbericht BSV, 2016

FRAUEN PROFITIEREN. Zudem gibt es für die Frauen auch in der zweiten Säule eine wesentliche Verbesserung. Bisher mussten Teilzeitbeschäftigte mit weniger als 21 000 Franken Einkommen gar nicht durch die zweite Säule versichert werden, und der hohe Koordinationsabzug verhinderte bei Tieflöhnen eine ordentliche Absicherung. Ein Viertel oder rund 500 000 aller weiblichen Erwerbstätigen sind nur AHV-versichert und haben gar keine zweite Säule, also keine Pensionskasse. Durch die Reform werden Teilzeitbeschäftigte und solche mit tiefen Löhnen besser versichert und kommen in den Genuss höherer Renten aus der zweiten Säule. Davon profitieren viele Frauen. Es gibt also auch für die Stimmbürgerinnen genügend Gründe, der Reform zuzustimmen. Trotz der bitteren Pille mit dem Rentenalter.

Weniger Mitglieder, mehr Einfluss: Wie lang geht das auf?

30. Juni 2017

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad, also der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten an der Gesamtzahl der Arbeitnehmenden, ist ein wichtiger Gradmesser für die Organisationsmacht und damit die Stärke der Gewerkschaften in einem Land.

Im Vergleich zu 1980 haben Mitgliederzahlen und Organisationsgrad in allen europäischen Ländern abgenommen. Nur in wenigen Ländern war der Rückgang geringfügig, so etwa in Schweden, das hier stellvertretend für die anderen nordischen Staaten mit ähnlicher Entwicklung steht. In den meisten Staaten hat sich der Organisationsgrad fast halbiert, in der Schweiz ging er um einen Drittel zurück.

Die grossen Mitgliederverluste erfolgten fast ausschliesslich vor der Wirtschaftskrise von 2007, also in den 1980er und 1990er Jahren. Seither hat sich der Organisationsgrad in den meisten Ländern auf einem tiefen Niveau stabilisiert. In Italien und Spanien nahm er sogar zu, so dass auch schon von einem «Revival» der Gewerkschaften gesprochen wurde.

MEHR GAV. Die Stärke der Gewerkschaften misst sich nicht nur an der Organisationsmacht, sondern auch an ihrer «institutionellen» Macht, das heisst an ihrem Einfluss auf Gesetzgebung und Politik. Und hier schneiden die Gewerkschaften weit besser ab. Dies zeigt sich etwa darin, dass in den meisten westeuropäischen Ländern heute gleich viel oder sogar mehr Arbeitnehmende durch Gesamtarbeitsverträge (GAV) und Mindestlöhne geschützt sind als 1980. Dies geschah auf politischem Weg über eine gesetzliche Allgemeinverbindlichkeit der GAV in der Schweiz. Etwa infolge der flankierenden Massnahmen oder durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wie in Deutschland. Dies trifft nicht für die von der Schuldenkrise besonders betroffenen Länder Portugal, Spanien und Griechenland sowie einige mittel- und osteuropäische Staaten zu, wo es zu teilweise dramatischen Verschlechterungen der Arbeitsrechte und des sozialen Schutzes kam.

LANGFRISTIG. Der Einfluss der Gewerkschaften auf Institutionen und die Gesetzgebung kann langfristig kaum gesichert werden, wenn es nicht gelingt, den Organisationsgrad zu erhöhen und so Aktionfähigkeit und Einfluss in den Betrieben sicherzustellen.

Energieverbrauch sinkt: Energieziele erreichbar

12. Mai 2017

Die rechten Gegner der Energiestrategie 2050 behaupten unter anderem, die Reduktionsziele für die Schweiz beim Energie- und CO2-Verbrauch seien viel zu ehrgeizig. Sie seien nur mit drastischen Regulierungsmassnahmen oder viel zu teuren Fördermassnahmen zu erreichen. Tatsächlich aber ist der Endenergieverbrauch bereits in den letzten Jahren rückläufig und nach einem zwischenzeitlichen Anstieg ungefähr wieder auf das Niveau von 1991 /1992 gesunken. Und dies, obwohl die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 1,5 Millionen Menschen zugenommen hat. Und damit auch die Anzahl Gebäude, Fahrzeuge, gefahrenen Kilometer usw.

MINUS 18 PROZENT. Pro Kopf der Bevölkerung bedeutet das einen Rückgang von fast 18 Prozent in 25 Jahren. Dabei ist der Verbrauch vor allem in den letzten 10 Jahren gesunken, um rund 14 Prozent. Bundesrat und Parlament möchten mit der Energiestrategie den Verbrauch bis 2020 um 16 Prozent senken im Vergleich mit dem Jahr 2000. Das ist praktisch schon jetzt erreicht. Deshalb wurde die Vorlage von links ja auch als zu wenig ehrgeizig kritisiert. Bis 2035 soll dann der Verbrauch um 43 Prozent reduziert werden, auch das scheint aufgrund der heutigen Zahlen durchaus machbar. Am rückläufigen Verbrauch der letzten Jahre dürften die verbesserte Wärmedämmung der Gebäude und der Einsatz effizienterer Technologien in der Industrie und in den Haushalten einen grossen Anteil haben. Das sieht man am stark rückläufigen Verbrauch von Erdölbrennstoffen, einem Energieträger, der besonders viel CO2 in die Atmosphäre ausstösst. Der Verbrauch von Erdölbrennstoffen hat sich ziemlich genau halbiert.

SCHWEIZ KANN’S BESSER. Dafür hat sich der Verbrauch von Treibstoffen und Elektrizität erst in den letzten Jahren etwas abgeschwächt, der Anteil des Atomstroms ist aber bereits deutlich gesunken. Etwa verdreifacht hat sich der Energieverbrauch bei den erneuerbaren Energieträgern Sonne, Wind und Biogas. Mit einem Anteil von 2,6 Prozent liegt die Schweiz hier aber weit hinter anderen Ländern zurück. Mit der Energiestrategie 2050 müssen deshalb vor allem diese Energieträger gefördert werden. Die angestrebte Energiewende wird so ein realistisches, erreichbares Ziel.