Sozialpolitik, Gewerkschaften, industrielle Beziehungen
Wegmarken des Sozialen Fortschritts
Die Europäische Föderation der Bau- und Holzgewerkschaften EFBH hat mit Unterstützung der EU-Kommission eine Publikation über die wichtigsten Wegmarken des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritts in Europa herausgegeben. Für die Schweiz haben die Denknetz-Mitglieder Hans Baumann, Roland Herzog und André Kaufmann den Schweizer Teil dazu beigetragen. Die Auswahl der Wegmarken ist natürlich nicht vollständig und immer etwas willkürlich, die Autoren mussten sich im Umfang beschränken.
Hier geht es zu den Schweizer Wegmarken. Die Publikation der Wegmarken zahlreicher EU- und EFTA-Länder ist online frei auf diesem Link in diversen Sprachen abrufbar.
Mitbestimmung als Baustein der Demokratisierung
Dieser Artikel erschien in einer etwas gekürzten Form im Denknetz-Buch “Reclaim Democracy“
„Die Demokratie hört vor den Fabriktoren auf“, hiess es einst. Und die Einschätzung trifft bis heute zu. Auch wenn viele Arbeitsverhältnisse nicht mehr so aussehen wie früher, das graue Fabriktor etwa vom hippen Eingang eines internationalen Forschungszentrums abgelöst wurde und die Digitalisierung zu ganz neuen Formen von Arbeitsverhältnissen geführt hat. Solange das so ist, bleiben die (bürgerlichen) Demokratien, wie wir sie kennen, halbierte Demokratien.
Die Demokratisierung der Wirtschaft war und ist deshalb eines der wichtigsten Ziele der Gewerkschaftsbewegung und der politischen Linken. Wenn Demokratisierung der Wirtschaft in einem umfassenden Sinn verstanden wird, nämlich als Partizipation bei der (globalen) Verteilung der Ressourcen, in der Gesamtwirtschaft, bei der Care- und Nichterwerbsarbeit, im staatlichen Sektor und auf der betrieblichen wie auch auf der Konzernebene, dann ist es wahrscheinlich sogar das wichtigste Ziel der Linken. Bei der demokratischen Mitsprache geht es um politische Grundrechte wie Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde. Dies betrifft alle Ebenen der Entscheidung: Jede Person sollte an jenen Entscheiden partizipieren können, die sie direkt oder indirekt betreffen. Die Wirtschaft demokratisieren heisst deshalb nicht nur den Arbeitsplatz und die unmittelbaren Arbeitsbedingungen mitgestalten, sondern viel mehr. Arbeitnehmende aber auch andere Anspruchsgruppen (Stakeholder) sind meist sehr direkt betroffen von Investitionsentscheiden auf Konzernebene, wirtschaftspolitischen Massnahmen oder etwa internationalen Vereinbarungen. Sie müssen deshalb dort mitbestimmen können.
Der vorliegende Beitrag fokussiert vor allem auf die Betriebs- und Unternehmensebene, also die „klassische“ Ebene der Mitbestimmung im Betrieb (korrekter: Mitwirkung oder Mitsprache) und die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, d.h. etwa durch eine Vertretung der Arbeitnehmenden oder anderer Stakeholder im Verwaltungs- oder Aufsichtsrat einer Firma.
Dies nicht als Widerspruch zu anderen, weitergehenden Modellen, wie z.B. demokratisch organisierten Genossenschaften oder ähnliches. Echte Mitsprache und Mitbestimmung soll einer von mehreren Bausteinen sein in einem Transformationsprozess hin zur Demokratisierung der Wirtschaft.
Besonders ohnmächtig fühlen sich viele Beschäftigte und andere betroffene Bevölkerungsgruppen, wenn es um nationale oder internationale Konzerne geht. In diesen sind die Entscheidungshierarchien oft verschachtelt und Entscheide werden scheinbar anonym oder aus weiter Entfernung getroffen. Dies im Gegensatz zu vielen kleinen und mittleren Unternehmen, wo die Entscheidungsmechanismen einsehbarer sind und der „Patron“ in der Regel noch greifbar ist. Zwar machen die kleinen und mittleren Unternehmen in der Schweiz über 90 Prozent der Betriebe aus. Aber eine Mehrzahl der Arbeitsplätze hängt heute direkt oder indirekt von Grossunternehmen und multinationalen Konzernen ab[1] und die Macht der Grosskonzerne hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Mit der Drohung der Verlagerung von Arbeitsplätzen werden Staaten, Arbeitnehmende und Gewerkschaften erpresst und gegeneinander ausgespielt. Oft sind Zugeständnisse bezüglich Arbeitsbedingungen, bei Neuansiedlungen oder Steuern die Folge. Eine effektivere demokratische Kontrolle dieser Unternehmen durch Politik und Stakeholders und eine echte Mitbestimmung der Arbeitnehmenden ist deshalb vordringlich.
Historische Forderung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie
Die Forderung nach Demokratisierung der Wirtschaft hat in der Gewerkschaftsbewegung eine lange Tradition, die weit ins 19. Jahrhundert reicht, und sie taucht in unterschiedlichen Formen in den Programmen der Schweizer Sozialdemokratie und der Gewerkschaften immer wieder auf (vgl. Spieler, 2010/1). In verschiedenen europäischen Ländern, vor allem in Deutschland, Österreich, den skandinavischen Ländern und Frankreich, wurden nach dem zweiten Weltkrieg eine Reihe von neuen Gesetzen zur Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene und Unternehmensstufe eingeführt. Beispielhaft erwähnt sei hier das Deutsche Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das die betriebliche Mitwirkung und die Drittelsparität in Aufsichtsräten regelte, und die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in grossen Unternehmen 1976.
Ein wichtiger Markstein in der Schweiz war die Mitbestimmungs-Initiative der Schweizer Gewerkschaften in den 1970er Jahren. Die beiden grossen Gewerkschaftsbünde SGB und CNG (heute Travail Suisse) forderten damals mit einer Volksinitiative die Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene. Die Initiative kam 1976 zur Abstimmung, in einer Zeit der ersten tiefgreifenden Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurden Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichtet und es kam in der Schweiz zu den ersten grösseren Streikbewegungen seit den 1950er Jahren. Offenbar hatten die Arbeitnehmenden in dieser Zeit andere Sorgen und die Mitbestimmungs-Initiative konnte keine unmittelbaren und für die Betroffenen direkt einsehbaren Antworten liefern – oder die Initianten waren nicht im Stande, die Zusammenhänge deutlich genug aufzuzeigen. Weil der Initiative zudem ein weniger weit gehender Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament entgegenstand und ein „doppeltes Ja“ damals nicht möglich war, wurden sowohl die Mitbestimmungsinitiative als auch der Gegenvorschlag vom Volk verworfen.
EU-Länder gehen voran
In Europa wurden inzwischen Mitwirkungsbestimmungen auf nationaler wie auch auf der Ebene der Europäischen Union neu geregelt. Bereits in den 1970er Jahren hat die damalige EWG erste verbindliche Richtlinien über die Information und Konsultation der Arbeitnehmenden erlassen. In den 1990er Jahren folgten die Richtlinien über die Europäischen Betriebsräte, über die Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft sowie Mindestvorschriften für Arbeitnehmervertretungen auf nationaler Ebene.
In den letzten Jahren gab es vor allem auf nationaler Ebene noch Fortschritte bei der Mitbestimmung auf der Unternehmens- bzw. Konzernebene. In 13 EU-Ländern wurden Gesetze erlassen, die den Belegschaften den Einsitz im Verwaltungs- oder Aufsichtsrat gewähren. [2] Je nach Land reicht das von einem einzigen Sitz im Verwaltungsrat bis zu einer 50-prozentigen Vertretung wie in den grossen deutschen Unternehmen.
Ist die Mitbestimmung in Europa also noch auf dem Vormarsch? Das passt so gar nicht zum anderen Trend, der in den meisten Ländern beobachtet werden konnte: Die Arbeitsgesetze werden dereguliert, der Arbeitsschutz wird verschlechtert.[3] Offensichtlich hat sich aber bis in bürgerliche Kreise herumgesprochen, dass Länder mit weitgehenden Mitbestimmungsmodellen, wie Deutschland, die Niederlande oder die nordischen Staaten, besser durch die Krise gekommen sind.
Schweiz mit schwachem Mitwirkungsgesetz…..
Nach der Ablehnung der Mitbestimmungsinitiative 1976 wurde die Diskussion über mehr Mitbestimmung und Partizipation der Beschäftigten in der Schweiz kaum mehr vorangetrieben. Nach der Ablehnung des Beitritts zum EWR 1992 legten Bundesrat und Parlament verschiedene Gesetze vor, mit der Absicht, die Schweiz für eine Annäherung an die EU „fit“ zu machen. („Swisslex“). Darunter befanden sich auch Gesetzesrevisionen in den Bereichen Arbeitnehmerrechte und Mitsprache. Dies führte dazu, dass die Schweiz mit rund 20-jähriger Verspätung die Informations- und Konsultationsrechte der Arbeitnehmenden bei Massenentlassungen, Betriebsschliessungen und Betriebsübergängen einführte. Zudem wurde im „Bundesgesetz über die Information und Mitsprache der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben“ von 1994 das Recht verankert, in Betrieben mit über 50 Arbeitnehmenden eine Vertretung einzurichten. Damit bekam die Schweiz ein von den Gewerkschaften formal unabhängiges Modell der Arbeitnehmervertretung, das vom Prinzip her der späteren EU-Rahmenrichtlinie entspricht, aber in verschiedenen Punkten schwächer ist. So gibt es z.B. gemäss schweizerischem Mitwirkungsgesetz kein Recht auf eine überbetriebliche Vertretung auf Unternehmens- oder Konzernstufe oder keinen Anspruch auf Freistellung für die Arbeitnehmervertretung.
Seit 1994 gab es in der Schweiz auf Gesetzesebene nur noch ganz wenige Fortschritte in Sachen Mitsprache und Mitbestimmung. Zu erwähnen ist die Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmenden im Fusionsgesetz von 2003 und die Sozialplanpflicht, die 2014 eingeführt wurde und die bei Massenentlassungen in Unternehmen mit über 250 Beschäftigten gilt.
….aber guten Gesamtarbeitsverträgen
Die Situation bezüglich Mitwirkung der Arbeitnehmenden sieht besser aus, wenn man die Regelungen in Gesamtarbeitsverträgen betrachtet. Zahlreiche Mitwirkungsrechte waren schon in Gesamtarbeitsverträgen geregelt, bevor das Mitwirkungsgesetz 1994 in Kraft trat. Vor allem in der Industrie haben betriebliche Vertretungen eine lange Tradition und in den Kollektivverträgen wurden schrittweise mehr Rechte verankert. So hat der Anteil der Verträge, in denen Mitwirkungsrechte geregelt sind, deutlich zugenommen. Waren es 1971 erst 36 Prozent, die Mitwirkungsklauseln enthielten, nahm dieser Anteil bis Mitte der 1980er Jahre auf 49 Prozent und bis heute auf 60 Prozent zu. Führend dabei ist der industriell-gewerbliche Sektor vor dem tertiären Sektor (Ziltener, Gabathuler, 2018).
Die meisten Mitwirkungsklauseln in Gesamtarbeitsverträgen sehen weiter gehende Rechte vor als das Gesetz. Dazu gehören z.B. erleichterte Verfahren für die Wahl der Arbeitnehmervertretung oder ein besserer Kündigungsschutz. Eine lange Tradition haben auch die Delegation der betrieblichen Lohnverhandlungen an die Arbeitnehmervertretung, wie in der Metall- und Maschinenindustrie und seit den 1990er Jahren in weiteren Branchen, oder die Kompetenz, über Abweichungen vom Gesamtarbeitsvertrag zu verhandeln. Beide Rechte sind in den Gewerkschaften allerdings umstritten, da sie auch zu einer Aufweichung der Gesamtarbeitsverträge und zu einer „Vertrieblichung“ der Arbeitsbeziehungen führen können.
Gewerkschaften mit anderen Prioritäten
Bei den Gewerkschaften stand das Thema Mitbestimmung in den letzten 30 Jahren nicht weit oben auf der Prioritätenliste. Die 1990er Jahre waren eine Periode der wirtschaftlichen und politischen Stagnation sowie des Erstarkens des Neoliberalismus und der nationalistischen Rechten. Die Gewerkschaften waren mit Abwehrkämpfen beschäftigt und darum bemüht, in den Betrieben und auf Branchenebene ihre Aktionsfähigkeit zu erhöhen (vgl. Rieger, 2017). Die Durchsetzung der Gesamtarbeitsverträge geschieht in der Schweiz zudem nicht in erster Linie über die Arbeitnehmervertretung im Betrieb. In Teilen der Industrie und vor allem im Gewerbe sind es die paritätischen Kommissionen auf Branchenebene, welche die vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen kontrollieren. Diese Organe haben relativ weitgehende Vollzugskompetenzen und die Gewerkschaften spielen darin eine wichtige Rolle.
Mit dem bilateralen Abkommen und der Einführung der Personenfreizügigkeit mit den EU ab 2004 war es für die Gewerkschaften prioritär, Lohn- und Sozialdumping sowie die Diskriminierung von ArbeitsmigrantInnen zu verhindern. So konnte ein griffiges Entsendegesetz und die so genannten flankierenden Massnahmen durchgesetzt werden, welche die Rechte der paritätischen und tripartiten Vollzugsorgane und massgebend stärkten (vgl. Pedrina, 2018).
Nicht im Paket der bilateralen Abkommen enthalten waren Regelungen zur Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmung. Entsprechende Vorstösse der SP im Parlament scheiterten an der bürgerlichen Mehrheit. Ebenfalls keinen Erfolg hatten die Gewerkschaften mit der Forderung nach einer Verbesserung des Schutzes von Vertrauensleuten und Arbeitnehmervertretern, obwohl die Schweiz deswegen zum wiederholten Mal von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) gerügt wurde.
Nachholbedarf auf allen Ebenen
Die Stärkung der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte in Betrieb und Unternehmung muss wieder zu einem prioritären Ziel von SP und Gewerkschaften werden. Dies gerade angesichts der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen wie soziale Ungleichheit, Digitalisierung und Klimawandel. Der zur Bewältigung dieser Herausforderungen nötige sozial-ökologische Umbau muss demokratisch abgestützt sein, auch als Antwort auf Demokratieverluste durch Konzernmacht, Privatisierungen und neue, prekäre Arbeitsformen. Dies war auch der Tenor der Fachtagung, die SP und Gewerkschaftsbund im März 2018 durchführten. Und das neue Wirtschaftskonzept der SP hält dazu fest: „Sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch bei den Gesamtarbeitsverträgen fordern wir einen Ausbau und eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung. Die Mitbestimmung muss in allen Sektoren und Branchen ausgebaut werden“ (SP Schweiz, 2018).
In welche Richtung müsste ein solcher Ausbau der Mitbestimmung gehen? Zunächst gilt es bei der betrieblichen Mitwirkung den Anschluss an Europa wieder zu finden und die grossen Defizite bei den Rechten der Arbeitnehmervertretung zu eliminieren. Hier ist der Schutz von Vertrauensleuten und Personalvertretungen zu nennen, ohne den es kaum möglich ist, der Arbeitgeberseite angstfrei und auf Augenhöhe zu begegnen. Dann geht es um die Freistellung der Arbeitnehmervertretung, die in der Schweiz nicht geregelt ist, um die Informations- und Konsultationsrechte (z.B. bei Massenentlassungen und Betriebsübergängen), die nur rudimentär umschrieben sind, sowie das Recht auf Beizug eines Sachverständigen, wie z.B. eines vollamtlichen Gewerkschaftssekretärs. Ein gravierender Mangel ist die fehlende überbetriebliche Vertretung der Arbeitnehmenden, also das Recht, sich auch mit den Arbeitnehmenden anderer Unternehmensteile auszutauschen und an der Unternehmensspitze vertreten zu sein. Dazu gehört auch der Einsitz in den Europäischen Betriebsrat für Unternehmen, die in der Schweiz den Hauptsitz haben oder in der Schweiz Tochtergesellschaften betreiben.[4]
Ein „Schweizer Modell“ der Mitbestimmung?
Gewisse gesetzliche und vor allem gesamtarbeitsvertragliche Grundlagen sind bei der betrieblichen Mitwirkung vorhanden. Ganz anders bei der Mitbestimmung auf Unternehmensstufe: Hier gab es seit der Ablehnung der Volksinitiative im Jahr 1976 keine wesentliche Bewegung mehr. Von wenigen Ausnahmen bei bundesnahen Unternehmen (SBB, Post, Swisscom) abgesehen, gibt es in grossen Unternehmen keine Arbeitnehmervertretung auf dieser Stufe, auch nicht auf gesamtarbeitsvertraglicher oder freiwilliger Basis.
2014 hat die JUSO Schweiz einen Entwurf für eine Volksinitiative zur Mitbestimmung auf Unternehmensstufe diskutiert, die sog. Fifty-Fifty-Initiative. Damit wollte die JUSO die Frage des Entscheidungsmonopols des Kapitals in Unternehmungen wieder in die politische Diskussion bringen. Gemäss Initiativentwurf sollten Arbeit und Kapital zu gleichen Teilen an den Entscheiden in Unternehmen beteiligt werden. Hierfür war als oberstes Organ eine Unternehmensversammlung vorgesehen, die sich paritätisch aus frei gewählten VertreterInnen der Belegschaft und der Kapitaleigner zusammensetzt. Die Versammlung wählt einen paritätischen Unternehmensrat, der die Funktion des Aufsichts- oder Verwaltungsrat einnimmt (JUSO, 2014). Das Projekt lehnte sich zwar an das deutsche Modell der paritätischen Mitbestimmung an, führte aber mit der Unternehmensversammlung eine Art Parlament ein, das über dem Verwaltungsrat steht. Die JUSO-Delegierten lehnten die Weiterverfolgung des Initiativprojekts ab. Offenbar erachtete man es noch als zu unausgereift und wollte die Diskussion zunächst vor allem mit den Gewerkschaften intensiver führen.
Ein ähnlicher, „parlamentarischer“ Ansatz zu mehr Wirtschaftsdemokratie stammt von den ÖkonomInnen Zeitoun, Osterloh und Frey. Ziel ist hier, auch andere Interessengruppen neben den Aktionären in Unternehmensentscheide einzubeziehen, um so die „Corporate Governance“ der Unternehmen zu verbessern. Danach sollte der Aufsichts- oder Verwaltungsrat über zwei Kammern verfügen, ähnlich der beiden Räte des Schweizer Parlaments. Eine Kammer wird durch die Aktionärsversammlung gewählt, die andere durch Stakeholder, wie Arbeitnehmende, Nichtregierungsorganisationen, Konsumentenvereinigungen usw. (Zeitoun, Osterloh, Frey, 2014). Das Verhältnis der beiden Kammern zueinander kann man sich ganz verschieden vorstellen. Gleichberechtigung der beiden Kammern analog des Schweizer Parlaments würde einer paritätischen Mitbestimmung entsprechen, allerdings in diesem Vorschlag nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Kapital, Arbeit und weiteren Anspruchsgruppen. Je nach Grösse der Unternehmung könnte die Entscheidungsmacht zwischen den Kammern auch verschieden verteilt sein (z.B. nur Vetorecht, Zweidrittelsmehrheit oder ähnliche Verfahren).
Um die Diskussion über Mitbestimmung auf Unternehmensstufe hierzulande wieder in Gang zu bringen, ist es naheliegend, die Erfahrungen der Nachbarländer und die bestehenden Regelungen der EU zu berücksichtigen. Glaubwürdige Alternativen zum Entscheidungsmonopol des Kapitals aufzuzeigen, heisst aber auch, bestehende Modelle kritisch zu hinterfragen. Offensichtlich stärkt z.B. die deutsche Mitbestimmung tatsächlich die Stellung der Arbeitnehmenden, führt zu besseren sozialen Lösungen und mehr Stabilität. Das Beispiel der Automobilindustrie mit dem Dieselskandal zeigt aber auch, dass dieses Modell bei der Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen hinterfragt werden muss.
Zudem müssen die Bedeutung des Care-Sektors und die durch die Digitalisierung entstandenen neuen, flexiblen sowie teilweise prekären Arbeitsformen in die Diskussion einbezogen werden. In jedem Fall ist es hilfreich, an bekannte demokratische Prinzipien, wie z.B. das Zweikammersystem, und vorhandene Traditionen anzuknüpfen. Es ist Zeit, die Diskussion in der Schweiz wieder zu führen.
Anmerkungen
[1] 30 Prozent aller Beschäftigten arbeiten direkt in Grossunternehmen, d.h. Unternehmen mit mehr als 250 Vollzeit-Beschäftigten (vgl. SwissHoldings, 2016). Zählt man die indirekt abhängigen Beschäftigten in Zulieferfirmen usw. hinzu, dürfte man auf mehr als die Hälfte der Beschäftigten kommen, die in Grossuntehmen bzw. multinationalen Unternehmen arbeiten.
[2] Siehe dazu die Länderübersicht in: http://www.worker-participation.eu/National-Industrial-Relations/Countries.
[3] In Deutschland gibt es allerdings auch Tendenzen für eine Aushebelung der Mitbestimmung durch neue Rechtsformen, u.a. die Europäische Aktiengesellschaft (SE), deren Mitbestimmungsstatut weniger weit geht. Siehe dazu: https://www.boeckler.de/64443_64474.htm.
[4] Zwar konnte in einem Grossteil der Schweizer Unternehmen, die einen Europäischen Betriebsrat haben, auch eine Schweizer Vertretung der Arbeitnehmenden durchgesetzt werden. Bei ausländischen Unternehmen mit Europäischem Betriebsrat, die in der Schweiz Personal beschäftigen, ist das aber in viel geringerem Mass der Fall (Gabathuler, Ziltener, 2013).
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