Nationalbank: Die Banken bekommen 8,5 Milliarden, die Öffentlichkeit nichts

Nationalbank:
8,5 Milliarden für die Banken, die Öffentlichkeit bekommt nichts

Hans Baumann/Beat Ringger, März 2024

2023 weist die Schweizerische Nationalbank SNB einen Verlust von 3,2 Milliarden auf. Das ist verglichen mit dem Vorjahresverlust von über 132 Milliarden ein Klacks. Trotzdem bekommen Bund und Kantone nichts. Letztes Jahr wurde der gesamte Verlust mit der Ausschüttungsreserve gedeckt, die eigentlich dazu da ist, dem Bund und den Kantonen eine regelmässige Gewinnbeteiligung zu sichern. Deshalb fiel diese Ausschüttungsreserve vor einem Jahr auf ein Minus von fast 40 Milliarden. Die Rückstellungen für Verluste auf ihren Währungsreserven blieben jedoch unangetastet. Im Gegenteil: Die Reserven wurden, obwohl es sich im Jahr 2022 genau um solche Währungsverluste handelte, sogar noch um 10 Prozent auf rund 105 Milliarden aufgestockt. 

Der 3-Milliarden-Verlust dieses Jahr resultiert aus einem Gewinn auf Devisen und Gold von 5,7 Milliarden und einem Verlust auf «Frankenpositionen» von 8,5 Milliarden. Diese Verluste entstehen, weil die SNB den Geschäftsbanken, jetzt nach der Zinswende, wieder Zinsen auf den bei der SNB gebunkerten Reserven zahlt. Die Banken freut das, denn sie verfügen über grosse Liquidität und können ihre Reserven nirgendwo so sicher und profitabel anlegen. Die bequem verdienten Zinsgewinne geben sie kaum oder bestenfalls zu einem kleinen Teil an die Kunden in Form einer besseren Verzinsung der Kundengelder weiter, sondern alimentieren damit eher ihre «Bonustöpfe», wie selbst die NZZ vermutet.[i] Dabei müsste die SNB diese Gelder gar nicht verzinsen oder könnte dies zu einem tieferen Zinssatz oder abgestuft tun: Schon wäre sie wieder in der Gewinnzone und hätte genügend Mittel, um auch Bund und Kantone an den Gewinnen teilhaben zu lassen.

  

Und wieder die gleichen Manipulationen

Zudem will die SNB mit ihren Verlusten gleich umgehen wie letztes Jahr. Der Verlust wird nicht getilgt durch die dafür vorgesehenen Rückstellungen, sondern die Rückstellungen für Währungsrisiken werden nochmals auf rund 116 Milliarden aufgestockt. Dafür wird der Verlust wiederum der Ausschüttungsreserve belastet, die auf ein Minus von rund 53 Milliarden sinkt. Mit diesen intransparenten Bilanzmanipulationen will uns die SNB deutlich machen, dass es über kurz oder lang gar kein Geld mehr gibt für die Öffentlichkeit, sondern alles für die Zinszahlungen an die Banken und zur weiteren Erhöhung ihrer Reserven verwendet wird. Das entspricht dem neoliberalen Dogma, wonach dem Staat möglichst wenige Mittel zukommen sollen.


[i] NZZ 31.10.2023

Jetzt aber wehren sich einzelne Kantone. Sie finden, dass das gegenwärtige System nicht mehr funktioniert und die Ausschüttungsreserve eigentlich dazu da ist, eine gewisse Verstetigung der Auszahlungen an Bund und Kantone zu garantieren. Auch der Sprecher des Eidgenössischen Finanzdepartements hat sich für eine Verstetigung der Gewinnausschüttungen ausgesprochen.[i] Tatsächlich hätte bereits der grosse Verlust im Jahr 2022 mit den dafür geschaffenen Rückstellungen gedeckt werden müssen und nicht mit den Ausschüttungsreserven. Diese akkumulierten Gewinne gehören gemäss Verfassung dem Bund und den Kantonen und nicht der SNB, die diese für die Verstetigung der Ausschüttungen verwenden sollte, und nicht zur Deckung ihrer Verluste. Die (Nicht)Verwendung der Rückstelllungen auf Währungsreserven durch die SNB sei völlig willkürlich, stellte das SNB-Observatory mit den Ökonomen Gerlach, Lengwiler und Wyplosz bereits vor einem Jahr fest. Und sie weisen auch in ihrer neusten Stellungnahme darauf hin, dass sich die SNB trotz der beiden Verlustjahre eine Ausschüttung von 6 Milliarden an Bund und Kantone (wie noch 2021) ohne weiteres leisten könne.[ii]

Die Nationalbank-Gewinne gehören dem Volk: Chance für einen Neuanfang

Die aktuelle Vereinbarung des Bundes mit der SNB über die Verwendung der Gewinne, die der SNB offenbar diese willkürliche Auslegung erlaubt, läuft noch bis 2025 und kann dann erneuert werden. Zudem hat jetzt SNB-Präsident Thomas Jordan seinen Rücktritt angekündigt. Dies ist die Gelegenheit, begangene Fehler zu korrigieren, den Mechanismus der Gewinnverteilung neu aufzustellen und die Bildung des Eigenkapitals und die Reservepolitik transparent zu machen.  

Zunächst müssten die Bilanztransaktionen der letzten zwei Jahre korrigiert werden. Die Ausschüttungsreserven sollten hierfür auf Null gesetzt werden, dies auf Kosten der vorhandenen Rückstellungen. Dann müsste garantiert sein, dass Bund und Kantone in jedem Fall ein Minimum an Gewinnausschüttung erhalten. Bis 2011 gab es eine fixe Auszahlung von 2,5 Milliarden, egal ob die SNB-Gewinne oder Verluste machte. Das ging also. Heute ist ein Minimum von 2 Milliarden nur garantiert, wenn die SNB einen Gewinn von mindestens 2 Milliarden macht. Damit ist man der Willkür der SNB ausgeliefert, die die Höhe des Bilanzgewinns über ihre Reservepolitik manipulieren kann. Eine Ausschüttung über ein Minimum von 2,5 oder 3 Milliarden hinaus könnte, anstatt vom Jahresgewinn abhängig, auch in Relation zur Bilanzsumme ausgeschüttet werden, wie Prof. Lengwiler vorschlägt. Dies würde die Ausschüttungen an Bund und Kantone wesentlich verstetigen. Zudem soll die Ausschüttungsreserve unangetastet bleiben, solange noch Rückstellungen vorhanden sind. Die Ausschüttungsreserve könnte auch nach oben begrenzt werden, z.B. auf 20 Milliarden. Der Bilanzgewinn, der diese Limite überschreitet, würde dann unverzüglich dem Bund und den Kantonen zur Verfügung gestellt.  


[i] Tages-Anzeiger 15.01.2024

[ii] SNB-Observatory: The Decision not to distribute in 2024. https://snb-observatory.ch/wp-content/uploads/2024/01/SNB-Observatory-Commentary-No-Distribution-2024.pdf.

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Unwahrheiten zur Wohlstandsverteilung

Unwahrheiten zur Wohlstandsverteilung

Hans Baumann, erschienen im work, 8.3.2024

Im Abstimmungskampf um die 13. AHV-Rente wurden von den Gegnerinnen und Gegnern viele Unwahrheiten und Halbwahrheiten verbreitet.  Leider auch vom ehemaligen Bundesrat Pascal Couchepin, der es eigentlich besser wissen müsste. Er bestritt in einem Interview, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren immer mehr aufgegangen ist und es deshalb Korrekturen zugunsten der Menschen mit weniger Einkommen und Rente braucht. Er bezeichnete dies im Tages-Anzeiger als «reine Ideologie». Tatsächlich sei – ­ so Couchepin – der Gini-Index in der Schweiz nicht gestiegen. Der Gini-Index ist ein Mass für die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung. Er bewegt sich zwischen 0 und 1, je weiter er in Richtung 1 geht, desto ungleicher ist die Verteilung. Couchepin liegt mit seiner Feststellung, der Gini-Index und damit die Ungleichheit habe sich nicht verändert, falsch. Der Gini-Koeffizient hat sich von 2005 bis 2018 bei den Primäreinkommen von 0,41 auf 0,46 erhöht. Die Primäreinkommen sind die Einkommen vor Abzug von Sozialabgaben und Steuern. Aber auch bei den verfügbaren Einkommen, also nach Abzug von Sozialabgaben und Steuern, hat sich der Koeffizient erhöht, nämlich von 0,27 auf 0,30. Diese Einkommen beinhalten auch alle Renten. 

Schere geht weiter auf. Noch viel deutlicher ist das bei den Vermögen. Dort hat die Schweiz mit einem Gini-Koeffizienten von 0,82 eine der ungleichsten Verteilungen der Welt. Und auch bei den Vermögen ist die Schere in den letzten Jahren nochmals aufgegangen, 2005 hatte der Koeffizient noch 0,78 betragen.

 

Quellen: BfS, Haushaltsbudgeterhebung HABE; Eidg. Steuerverwaltung ESTV; Verteilung des Wohlstands in der Schweiz, Bericht des Bundesrates vom 16.12.2022 

Über eine längere Zeit gemessen, ist diese Entwicklung noch viel krasser: 1980 verfügte das reichste Prozent der Schweizer Bevölkerung über ein Drittel aller Vermögen, die anderen 99 Prozent mussten sich die übrigen zwei Drittel teilen. 2020 besass das reichste Prozent aber bereits 47 Prozent, also fast die Hälfte aller Vermögen, während sich 99 Prozent in die andere Hälfte teilen musste. 

Auch in der Schweiz ist die Schere zwischen Arm und Reich aufgegangen und es konzentriert sich immer mehr Einkommen und Vermögen bei einer kleinen Schicht der Allerreichsten. Das gilt für Erwerbshaushalte wie auch für Rentnerinnen und Rentner. 

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Deutsche Rechtsradikale tummeln sich gern in der Schweiz

Deutsche Rechtsradikale tummeln sich gern in der Schweiz

Michael Lacher/Hans Baumann. Die Übergänge von rechtspopulistischer Politik zu ultrarechten Kreisen sind zunehmend fliessend. 

(Red) Michael Lacher hat den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke, dem damaligen Regierungspräsidenten in Kassel, begleitet und betreibt einen Blog www.michael-lacher.de.

Wenn man in der Region währschaft Essen gehen will, ist man im Gasthaus St. Meinrad im Kanton Schwyz richtig. Das weiss offenbar auch Alice Weidel von der deutschen Rechtspartei AfD, die sich dort im Spätsommer mit Ex-Bundesrat Ueli Maurer von der SVP traf. In der Idylle des Voralpengebiets rund um den Wallfahrtsort Einsiedeln, mit der Schwarzen Madonna in der Klosterkirche, trafen sich die beiden ungleichen Rechtsaußen in dem besagten Lokal, das unweit des schweizerischen Wohnorts von Weidel liegt. 

Weidel in der Schweiz – nicht ganz allein. Vor einigen Jahren zog die Co-Vorsitzende der AfD-Fraktion im deutschen Bundestag mit ihrer Lebenspartnerin und ihren Kindern aus Biel im Kanton Bern nicht ganz freiwillig in das katholisch-konservative Einsiedeln. Hier „fühlen wir uns sehr wohl, hier kennt man uns“, wie die Partnerin von Weidel freimütig in einem Interview hervorhob. Dies kam nicht von ungefähr, wurden sie doch aus dem eher großstädtisch-migrantischen Biel mehr oder weniger rausgeekelt. Und hier nun, mit Blick in die Schweizer Hochalpen, mit Ueli Maurer beim währschaften Essen. Maurer und Weidel trafen sich, angeblich geheim, um was zu besprechen? Offizielle Verlautbarungen gab es nicht, aber genügend politische Gemeinsamkeiten zwischen der SVP und der AfD sind bekannt

Bei dem Treffen waren die jüngsten Wahlerfolge beider Rechtsparteien noch süße Zukunftsmusik: Am 22. Oktober erreichte die SVP mit 27,9 Prozent bei den Nationalratswahlen bekanntlich eine Steigerung von 2,3 Prozent und blieb mit Abstand stärkste Partei. Ein verhaltener Rechtsrutsch in der Schweiz, nicht ganz so ausgeprägt wie bei den deutschen Landtagswahlen in Bayern und Hessen, wo die AfD Rekordergebnisse erzielte: In Bayern verdoppelte sie ihre Mandate, wobei auch noch die andere Rechtspartei, die Freien Wähler, deutlich zulegten, und in Hessen wurde die AfD zweitstärkste Partei hinter der CDU, noch vor SPD und Grünen. 

Die Migrationspolitik, die Fremdenfeindlichkeit, die neoliberale Wirtschaftspolitik, Sozialabbau (vor allem für Ausländer) und Europaskepsis sind Gemeinsamkeiten, die mit populistischer Stimmungsmache Wähler vor allem im ländlichen Raum der Schweiz und in Großstädten Deutschlands anziehen. Allerdings kam die AfD mit fast 19 Prozent Wähleranteil in Hessen und knapp 15 Prozent in Bayern natürlich nicht an die SVP heran, die jetzt schon seit über 20 Jahren die wählerstärkste Partei ist. Heißt das für Weidel von der Schweiz lernen, siegen lernen? Oder anders gefragt: Was macht die adrette und saubere Schweiz für Deutsche aus der rechtpopulistischen und rechtsradikalen Szene so attraktiv? 

Rechts wächst etwas zusammen. Die deutschen Rechtsradikalen tummeln sich gerne in der Schweiz. Da gab es 2016 im grenznahen Kanton St. Gallen ein Rechtsrockkonzert mit 5.000 Teilnehmenden vornehmlich aus Deutschland, fast ausschließlich deutschen Rechtsrockbands und organisiert von Thüringen aus. Nicht lange her, im Sommer 2022, trafen sich im Zürcher Oberland in einem Waldgelände Dutzende Rechtsradikale, vor allem aus Deutschland, in einem Pfadfinderheim. Prominentes Beispiel der rechtsradikalen Netzwerke in der Schweiz zeigt die Verbindung des Neonazis und NPD- (jetzt „Heimat“) Strippenziehers Thorsten Heise aus Thüringen. Als dessen Sohn infolge eines Vorwurfs der Körperverletzung und Raubes an einem Journalisten ins Visier der Ermittlung geriet, gelang ihm der Move ins Westschweizer Wallis und Heise brachte seinen Sohn als Auszubildenden bei einem befreundeten Schweizer Neonazi-Unternehmer unter. 

Doch auch weniger militante, sich etwas zivilisierter gebende Rechtsradikale aus Deutschland nutzen die Schweiz als Rekrutierungs- und Kommunikationsort. So führte der bekannte Reichsbürger und Holocaustleugner, Matthias Weidner, ein Seminar zum Thema „Leben im Willkürstaat“ mit dem verbreiteten antisemitischen Narrativ der „geheimen Weltregierung“ am Walensee in der Schweiz durch. Pikanterweise – und da zeigt sich der Übergang in die rechtspopulistische Gefahrenzone – wurde das Seminar ebenfalls von einem bekannten SVP-Vorstandsmitglied und Mediensprecher aus Graubünden besucht, der zudem als Unternehmensberater einen zweistündigen Vortrag über „bewährte und praktizierte Möglichkeiten der Vermögenssicherung für Einzelne, Familien, Selbstständige und Unternehmen im Ausland“ platzierte. So vermehrt sich Geld über rechte Ideologie nach Schweizer Art. Dass, wiederum im Kanton St. Gallen, im Zuge einer Reichsbürger-Razzia im Frühjahr 2023 auch zwei Schweizer Staatsbürger mit Verbindung zur deutschen Reichsbürgerszene und der schweizerischen Rechtsauslegerinitiative „Massvoll“ festgenommen wurden, dürfte indes kein Zufall gewesen sein. Bekanntlich ist die ultrarechte „Massvoll“-Initiative anlässlich der Nationalratswahlen in zwei Kantonen eine Listenverbindung mit der SVP eingegangen.

Die Schweiz ist attraktiv für deutsche Rechtsradikale. Die Schweizer Behörden registrieren in der letzten Zeit vermehrt Aktivitäten deutscher Neonazis in der Schweiz. Dazu gehören auch solche Organisationen, die in Deutschland mittlerweile verboten sind, wie etwa Blood & Honour, die Hammerskins oder Combat 18. Dies hat auch mit den unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen der Schweiz zu tun, wie der Berliner Rechtsextremismusforscher Hajo Funke hervorhebt, weil hier neonazistische Symbolik, wie etwa das Hakenkreuz oder der Hitlergruß, nicht verboten sind, es keine Pflicht des Mitführens von Ausweispapieren gibt und vor allem das Schweizer Waffengesetz den Besitz und vor allem den Handel mit Waffen begünstigt. Zudem verläuft die behördliche Koordination mit dem Nicht EU-Land Schweiz weniger reibungslos, als das etwa mit Österreich der Fall ist, wo sich deutsche Rechtsextreme auch gerne aufhalten. Das hat sich im Übrigen auch Stephan Ernst zunutze gemacht. Stephan Ernst hatte vor vier Jahren den Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet. Die Waffe, die Stephan Ernst erwarb, ist zuvor von der Schweiz nach Deutschland gelangt, genauso wie vorher schon Waffen, die der „nationalsozialistische Untergrund“, NSU, verwendet hatte. Der NSU ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Personen mit Migrationshintergrund und verübte in Deutschland insgesamt 43 Mordanschläge.  

Wie man sieht, ist die Schweiz für deutsche Rechtsradikale ein attraktiver Zielort. Neben der geografischen Nähe dürfte dabei auch die gemeinsame Sprache in der deutschen Schweiz eine Rolle spielen. Doch das allein würde für eine stärkere Hinwendung deutscher Neonazis nicht ausreichen, wenn nicht die führende Rolle der SVP im Schweizer Parlamentarismus, aber auch außerparlamentarisch eine Grauzone zu den Rechtsradikalen begünstigen würde. Denn die SVP hat hier einiges vorzuweisen:  So arbeitete kürzlich die SVP-Präsidentin in Winterthur mit bekannten Rechtsradikalen der „Jungen Tat“ bei der Entwicklung von Social Media und Wahlkampfvideos zusammen. Die schweizerische „Junge Tat“ ist eine Neonazi-Gruppe, die sich mittlerweile über die gesamte deutsche Schweiz organisiert hat. Genutzt hat es der Präsidentin freilich wenig – die SP hat in Winterthur als stärkste Partei nochmals kräftig zugelegt. In St. Gallen kam es noch dicker: Der ehemalige Präsident der SVP Buchs und Ex-Vizepräsident des SVP-Nachwuchses „Junge SVP“ ist sogar Mitglied der „Jungen Tat“. Der 28-jährige Neonazi, mittlerweile aus der SVP ausgetreten, konnte mit Unterstützung der lokalen SVP-Granden eine Karriere vorweisen, die wohl seinen ehemaligen Förderern und Ahnungslosen mittlerweile unangenehm geworden ist: „Ich habe von seiner Radikalisierung nichts mitbekommen“, resümiert ein ehemaliger Kantonsrat aus St. Gallen. Ähnliches passierte im deutschen Bundesland Hessen zur Kommunalwahl 2021 in Kassel, als ein bekannter Neonazi und ehemaliges Blood & Honour-Mitglied auf der Kreistagsliste der AfD kandidierte.

Reger Austausch: Schweizer Rechtsradikale tummeln sich auch in Deutschland. So pflegt die Junge Tat regen Kontakt zur Jugendorganisation der AfD oder zum Institut des rechten Verlegers Götz Kubitschek. Diese Organisationen werden in Deutschland als «gesichert rechtsextrem» und verfassungsfeindlich eingestuft. Junge Tat Mitglieder wurden deshalb in Deutschland auch polizeilich als Rechtsextreme erfasst, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage hervorgeht. «Die offenbar engmaschige Beobachtung der Jungen Tat zeigt, wie gefährlich selbst deutsche Sicherheitsbehörden die Gruppierung und ihre Aktivitäten einschätzen», sagt die Linken-Abgeordnete Martina Renner, die die Anfrage mit eingereicht hat (WOZ, 15.12.2023).
Stimmen zur Jungen Tat
aus Deutschland

Die Schweiz ist attraktiv für deutsche Rechtsradikale. Die Schweizer Behörden registrieren in der letzten Zeit vermehrt Aktivitäten deutscher Neonazis in der Schweiz. Dazu gehören auch solche Organisationen, die in Deutschland mittlerweile verboten sind, wie etwa Blood & Honour, die Hammerskins oder Combat 18. Dies hat auch mit den unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen der Schweiz zu tun, wie der Berliner Rechtsextremismusforscher Hajo Funke hervorhebt, weil hier neonazistische Symbolik, wie etwa das Hakenkreuz oder der Hitlergruß, nicht verboten sind, es keine Pflicht des Mitführens von Ausweispapieren gibt und vor allem das Schweizer Waffengesetz den Besitz und vor allem den Handel mit Waffen begünstigt. Zudem verläuft die behördliche Koordination mit dem Nicht EU-Land Schweiz weniger reibungslos, als das etwa mit Österreich der Fall ist, wo sich deutsche Rechtsextreme auch gerne aufhalten. Das hat sich im Übrigen auch Stephan Ernst zunutze gemacht. Stephan Ernst hatte vor vier Jahren den Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet. Die Waffe, die Stephan Ernst erwarb, ist zuvor von der Schweiz nach Deutschland gelangt, genauso wie vorher schon Waffen, die der „nationalsozialistische Untergrund“, NSU, verwendet hatte. Der NSU ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Personen mit Migrationshintergrund und verübte in Deutschland insgesamt 43 Mordanschläge.  

Wie man sieht, ist die Schweiz für deutsche Rechtsradikale ein attraktiver Zielort. Neben der geografischen Nähe dürfte dabei auch die gemeinsame Sprache in der deutschen Schweiz eine Rolle spielen. Doch das allein würde für eine stärkere Hinwendung deutscher Neonazis nicht ausreichen, wenn nicht die führende Rolle der SVP im Schweizer Parlamentarismus, aber auch außerparlamentarisch eine Grauzone zu den Rechtsradikalen begünstigen würde. Denn die SVP hat hier einiges vorzuweisen:  So arbeitete kürzlich die SVP-Präsidentin in Winterthur mit bekannten Rechtsradikalen der „Jungen Tat“ bei der Entwicklung von Social Media und Wahlkampfvideos zusammen. Die schweizerische „Junge Tat“ ist eine Neonazi-Gruppe, die sich mittlerweile über die gesamte deutsche Schweiz organisiert hat. Genutzt hat es der Präsidentin freilich wenig – die SP hat in Winterthur als stärkste Partei nochmals kräftig zugelegt. In St. Gallen kam es noch dicker: Der ehemalige Präsident der SVP Buchs und Ex-Vizepräsident des SVP-Nachwuchses „Junge SVP“ ist sogar Mitglied der „Jungen Tat“. Der 28-jährige Neonazi, mittlerweile aus der SVP ausgetreten, konnte mit Unterstützung der lokalen SVP-Granden eine Karriere vorweisen, die wohl seinen ehemaligen Förderern und Ahnungslosen mittlerweile unangenehm geworden ist: „Ich habe von seiner Radikalisierung nichts mitbekommen“, resümiert ein ehemaliger Kantonsrat aus St. Gallen. Ähnliches passierte im deutschen Bundesland Hessen zur Kommunalwahl 2021 in Kassel, als ein bekannter Neonazi und ehemaliges Blood & Honour-Mitglied auf der Kreistagsliste der AfD kandidierte.

Weidel, Schweiz und die Milliardäre. Dass die AfD-Frontfrau Weidel sich hierzulande wohlfühlt, dürfte indes nicht nur an dem Wallfahrtsort Einsiedeln und seiner Schwarzen Madonna liegen, sondern auch an mutmaßlichen Geldflüssen, die immer wieder die deutsche Staatsanwaltschaft und die Bundestagsverwaltung in Aktion bringen. Jüngstes Beispiel 2022 sind ungeklärte Geldzuwendungen an die AfD für Medienproduktionen, die via Bayern aus der Schweiz möglicherweise über den deutsch-schweizerischen Milliardär und Immobilienhändler Henning Conle in Zürich gelaufen sind. Schon 2017 hatte Weidel laut Recherchen verschiedener deutscher und schweizerischer Medien vom selben Milliardär einen „150.000-Franken-Wahlkampf-Zuschupf“, so der Zürcher Tagesanzeiger damals, bekommen. 

Was die Geldzuflüsse von milliardenschweren Unternehmern an die rechten Parteien angeht, kann die AfD der SVP nun nichts vormachen. Christoph Blocher hat mit seinen industriellen Unternehmensmilliarden massgebend zum Aufstieg der SVP beigetragen und sich mit seiner schweizerisch-nationalen Bauernschläue die Schweizer Rechtsradikalen, aber auch die AfD-Vorsitzenden, weitgehend vom Halse gehalten. Das tat er etwa 2016 in einer Schweizer Talkshow, als er sich weigerte, neben Alexander Gauland (AfD) als Talkshow-Gast platziert zu werden. Diese Distanzversuche scheinen nunmehr der Vergangenheit anzugehören, wie das Tête à Tête von Alice Weidel und Ueli Maurer zu bestätigen scheint. 

Zweisamkeit mit Rechtsradikalen. Doch diese persönlichen Treffen inclusive der finanziellen Transaktionen aus der Schweiz allein machen die Zweisamkeit von AfD und SVP nicht aus. Auch hinsichtlich ihrer Attraktivität für Neonazi-Gruppen und ultrarechten Figuren aus der Szene scheint die AfD ihren Schweizer Freunden im Geiste es gleich tun zu wollen. So ist Frau Weidel schon als Referentin in dem Institut für Staatspolitik (Schnellroda) des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek – im Übrigen auch Berater des Björn Höcke – aufgetreten. Genauso wie die Tochter der Ehefrau Kubitscheks mit einem Bundestagsmitarbeiter der AfD verheiratet ist. So fügt sich, was zusammengehört. Es trafen sich bspw. nach SPIEGEL-Recherchen (SPIEGEL Nr. 30 v. 22.07.2023) im Juli dieses Jahres auf Einladung mehrerer Landesverbände der „Jungen Alternative“ (JA) in Niedersachsen eine Reihe von Neonazis und ehemaligen NPD-Funktionären mit AfD-Mitgliedern, um das AfD-Vorfeld zu beackern, was letztlich aus rechtsradikalen und neonazistischen Umfeldorganisationen besteht. Dann wundert es auch nicht, dass in Berlin schon mal gemeinsame Kampfsporttrainings mit Identitären und NPD/“Heimat“-Mitgliedern durchgeführt werden. 

In dieser Reihe dürften denn auch die ungebrochene Anziehungskraft der AfD für Rechtsterroristen bleiben. So wie etwa beim Mord an Walter Lübcke 2019, wo nicht nur der Schweizer Waffenhandel eine Rolle spielte. Auch der Kumpan des Mörders von Lübcke, Stephan Ernst, der Helfer der AfD bei der Landtagswahl Hessen 2018 war, wurde von einem Neonazi-Kumpan im Zeugenstand des Untersuchungsausschusses als „AfD-Mann, ganz normal“ bezeichnet. Dass durch Ernst auch eine Geldspende an die AfD erfolgte, fiel kaum mehr ins Gewicht, weil die zur Kenntnis gebrachten fließenden Übergänge von den neonazistischen Aktivisten zur AfD noch nicht mal mehr ein Murren der hessischen AfD-Fraktion im parlamentarischen Lübcke-Untersuchungsausschuss bewirkte. 

Schweiz und Deutschland – ein ungleiches Paar? Folgt man der New York Times, dann ist die Schweiz ein Reiseparadies. Folgt man deutschen Arbeitnehmern von ihrem deutschen Wohnort an ihren Arbeitsort in der Schweiz, dann ist das Land ein Einkommensparadies. Dann kommt hinzu: Die Schweiz ist sauber und ordentlich und die Bahn pünktlich – aber die Immobilienpreise und die Mieten hoch, und die Menschen doch nicht immer ganz freundlich Fremden gegenüber. An diesem Punkt setzt die SVP mit ihrem fremden- und ausländerfeindlichen, letztlich nationalistischen, Versprechen einer reinen und ursprünglichen Schweiz an. Vor allem im ländlichen Raum ohne hohen Ausländeranteil verfängt dieser Politikansatz, während in den Großstädten, wie etwa Zürich, die SP mit einer eher liberalen Migrationspolitik bei den jüngsten Nationalratswahlen deutliche Zugewinne erzielen konnte.

Hinzu kommt eine extreme Vermögensumverteilung, die in den letzten Jahrzehnten um 50% zugenommen hat, sprich: das reichste Prozent der Steuerzahlenden besaß 2018 45% aller Vermögen (so der linke Think Tank „Denknetz“ 2022). Ein europäischer Spitzenwert der sozialen Ungleichheit, was die Rechte als Neidkampagne gegen die Großstädter und für eine saubere Schweiz gegen das feindliche, vor allem EU-Ausland nutzt. Die zunehmende soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnen verschafft den Rechten in der Schweiz, wie auch in Deutschland, Wählerstimmen, weil Ungleichheit, trotz eigener hoher Leistungsanstrengung, als ungerecht empfunden wird und die eigene Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen demonstriert. Zur sozialen Entwertung passen denn auch die eingeschränkten bis verhinderten sozialen Mobilitätschancen in beiden Ländern, die wesentlich von den Bildungsvoraussetzungen und der sozialen Herkunft abhängig sind. 70% der Studierenden in der Schweiz, so eine Studie des Bundesamtes für Statistik, sind Akademikerkinder. 

Wenn das Nachtessen im St. Meinrad herzhaft und kräftig war, an dem Thema Rechtsradikalismus werden sich Alice Weidel und Ueli Maurer nicht verschluckt haben. Da wird dann schon eher die Geschmeidigkeit von Geldflüssen aus der Schweiz zur AfD Thema gewesen sein. Auch die Verstetigung günstiger Wahlergebnisse für die Rechte könnte erwähnt worden sein, ebenso welche Erfahrungen die SVP mit einstürzenden Brandmauern gegenüber den Bürgerlichen gemacht haben könnte. Damit hat die SVP in der Schweiz Praxiserfahrung. Eine politische Praxis, die aber eher den Milliardären als ihren Wählern genutzt hat. In dieser Gesellschaft wird sich auch Frau Weidel wohlfühlen dürfen. 

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Immer mehr Arme – kommt jetzt die Trendwende?

Immer mehr Arme in der Schweiz – kommt jetzt endlich die Trendwende?

Von 2013 bis zum Jahr 2021 ist die Anzahl der von Armut Betroffenen in der Schweiz stetig angestiegen. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung erhöhte sich in dieser Zeit von knapp 6 auf 8,7 Prozent, 2021 entsprach dies 745’000 Personen. Als arm werden Personen bezeichnet, deren Einkommen unter jener Schwelle liegt, die für die Existenz nötig ist und eine minimale gesellschaftliche Integration ermöglicht (soziales Existenzminimum). Am Beispiel einer vierköpfigen Familie lag diese Grenze 2021 bei knapp 4000 Franken, wenig genug. 

Migrant:innen stärker betroffen. In den Pandemiejahren 2020/21 hat sich die Armut dank Unterstützungsmassnahmen, verlängerter Kurzarbeit etc. nicht wesentlich verschärft, sondern ist etwa auf dem gleichen, allerdings hohen Niveau geblieben wie vor Corona.  Besonders von Armut betroffen sind Personen mit einem ausländischen Pass. Das war zwar schon immer so, aber deren Armutsquote hat sich seit 2013 mehr als verdoppelt, ist also ungleich stärker angestiegen als bei der Schweizer Bevölkerung. In der Darstellung 2 wird deutlich, dass das Armutsrisiko hauptsächlich bei Personen die aus Ländern Osteuropas und ausserhalb der EU stammen (EU-Ost und Drittländer) zugenommen hat. Diese Personen haben heute ein deutlich höheres Risiko als die übrige Bevölkerung. Leicht erhöht ist zudem das Armutsrisiko von Personen aus Südeuropa. Demgegenüber ist Armutsquote der Personen aus Mittel- und Nordeuropa ist fast gleich wie diejenige der Schweizer Bevölkerung. 

Frauen waren seit jeher stärker von Armut betroffen als Männer, der Unterschied hatte sich aber bis 2018 deutlich verringert und ist seither wieder leicht grösser geworden. Der Anteil jener Personen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind, hat stetig zugenommen. Deren Anteil am Total der Erwerbstätigen ist von 2,7 Prozent im Jahr 2013 auf 4,2 Prozent gestiegen.

Chance für Trendwende. Entgegen den Befürchtungen ist der Anteil der Personen, die Sozialhilfe beziehen, in den Pandemiejahren nicht gestiegen, sondern praktisch gleich geblieben. Und im letzten Jahr ist die Sozialhilfequote erstmals seit langem wieder zurückgegangen, nämlich von 3,1 auf 2,9 Prozent. Gute Kunde auch vom Arbeitsmarkt: Die Zahl der Erwerbslosen hat sich seit der Pandemiejahre deutlich deutlich verringert und ist dieses Jahr sogar auf ein Zehnjahrestief gesunken. Auch die Unterbeschäftigungsquote, also der Anteil jener Personen, die teilzeitbeschäftigt sind, aber länger arbeiten möchten, ist markant zurückgegangen. 2020 waren noch 7,5 Prozent (Frauen 11,8) unterbeschäftigt, 2022 nur noch 4,7 (Frauen 7,3) Prozent.  

Dies deutet eigentlich alles auf eine Trendwende hin, die auch die Zahl der von Armut betroffenen endlich wieder reduzieren könnte. Entscheidend wird dabei sein, wie sich die Inflation entwickelt und ob es gelingt, die steigende Belastung durch Krankenkassenprämien und höhere Mieten mit Lohnanpassungen und sozialen Massnahmen wie Prämiendeckelung zu verringern.

  

Quellen BfS, Erhebung SILC. Für 2022 Trend. Beispiel: 2021 lebten 8.7% der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze. Diese betrug z.B. für eine vierköpfige Familie knapp 4000 Franken.  

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Kopfprämien sind das Problem, nicht die Kosten

Die Kopfprämien sind das Problem, nicht die Kosten

Hans Baumann, 3. November 2023, erschienen in WORK

Die Gesundheitsausgaben sind in der Schweiz in den letzten Jahren nochmals angestiegen. Wohnkosten und Krankenkassenprämien sind die grössten Ausgabenposten in Schweizer Haushalten, und Familien mit Kindern zahlen für die Krankenkassenprämien mehr als für Steuern. Es stimmt, in gewissen Bereichen ­liessen sich Gesundheitskosten ­senken: überteuerte Medikamente, hohe Löhne von Chefärzten, zu hohe Verwaltungskosten der Kassen usw.

IM RAHMEN. Vergleicht man unsere Gesundheitskosten mit anderen Ländern, so fällt auf, dass sie durchaus im Rahmen sind. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandprodukt (BIP) beträgt in der Schweiz 11,3 Prozent. In den meisten westeuropäischen Ländern beträgt der Anteil zwischen 10 und 12 Prozent. Zwei ­unserer Nachbarländer schlagen dabei etwas nach oben (Deutschland) und unten aus (Italien). Von allen Industrieländern die höchsten Kosten weist das US-amerikanische, fast vollständig privatisierte Gesundheitssystem auf. Sein Anteil am BIP ist rund 50 (!) Prozent höher als in Westeuropa.

FINANZIERUNG FALSCH. Eine gute Gesundheitsversorgung kostet, und wir sollten uns die vergleichsweise hohe Qualität, die wir heute haben, auch leisten können. Das grösste Problem sind hierzulande nicht die Kosten, sondern ihre Finanzierung. Und hier gibt es riesige Unterschiede zu anderen Ländern. Während etwa in Dänemark und Grossbritannien der Hauptteil der Kosten aus Steuermitteln bezahlt wird, die progressiv sind und die Reichen deutlich stärker belasten, werden in anderen Ländern die Gesundheitskosten wenigstens mit Lohnprozenten und somit im Verhältnis zum Einkommen finanziert. In der Schweiz mit der Kopfprämie bezahlt

eine Angestellte, die 5000 Franken verdient, ­genau gleich viel wie der Manager, der 50 000 Franken im Monat verdient. Das ist unsozial und führt dazu, dass untere und mittlere Einkommen viel zu stark belastet werden. Auch die Prä­mienverbilligung für tiefe Einkommen ändert daran nur wenig. Die Schweiz ist reich genug, um sich ein gutes Gesundheitssystem zu leisten. Weil aber der Reichtum so ungleich verteilt ist, muss auch die Finanzierung der Gesundheitskosten anders aufgeteilt werden. Die Prämienentlastungsinitiative der SP ist ein erster Schritt dazu.

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Reiche Schweiz? Über die Hälfte besitzt (fast) nichts…

Reiche Schweiz? Über die Hälfte besitzt (fast) nichts….

Der jährlich von der Credit Suisse publizierte «Global Wealth Report» rechnet vor, dass die in der Schweiz lebenden erwachsenen Personen mit über 603 000 Franken das höchste Durchschnittsvermögen der Welt aufweisen. Dies weit vor den USA, die an zweiter Stelle liegen, und allen anderen Ländern. Zweifellos ist die Schweiz eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Die CS-Studie relativiert dies jedoch gleich selbst wieder: Der Reichtum ist in der Schweiz sehr ungleich verteilt. Deshalb liegt das mittlere Vermögen dann nur noch bei etwas mehr als 167 000 Dollar. Das mittlere Vermögen (Median) ist der­jenige Wert, der genau in der Mitte liegt, das heisst 50 Prozent der Erwachsenen besitzen weniger als 167 000, 50 Prozent besitzen mehr. So gerechnet liegt die Schweiz nur noch an sechster Stelle. Also zum Beispiel hinter Belgien, Dänemark und Neuseeland, deren Reichtum gleich­mässiger verteilt ist.

BVG-TRICK. Auf der Basis der neusten Vermögensstatistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) kommt man allerdings nochmals auf ganz andere Werte. Der Hauptgrund dafür ist, dass die CS-Studie die ­Pensionskassenguthaben als Privatver­mögen einbezieht. Das ist fragwürdig, weil die zweite Säule in der Schweiz ein gesetzlicher Bestandteil der Altersvorsorge ist und die Arbeitnehmenden vor der Pensionierung nicht darüber verfügen können. Die ESTV-Statistik basiert hingegen auf dem Reinver­mögen aus der Steuer­veranlagung, also ohne PK-Guthaben. So sinkt das Durchschnittsvermögen pro erwachsene Person auf 311 000 Franken, im Vergleich mit der CS-Studie etwa die Hälfte. Und da sich in der Schweiz rund drei Viertel des ­Vermögens bei den reichsten 5 Prozent der Bevölkerung konzentrieren, bleibt für die ­grosse Mehrheit von 95 Prozent der Bevölkerung nicht mehr so viel übrig: Deren Vermögen beträgt durchschnittlich rund 100 000 Franken.

LETZTE RESERVEN WEG. Und in der ­unteren Hälfte der Wohlstandspyramide? Ohne Berücksichtigung der PK-Vermögen besitzen über die Hälfte der Erwachsenen gar nichts, sind verschuldet oder haben nur wenige Ersparnisse. Im Durchschnitt ergibt dies für 55 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nur rund 7500 Franken Vermögen. Jetzt, angesichts Teuerung, steigender Mieten, Krankenkassenprämien und Strompreise kann sich das fatal auswirken: Eine Mehrheit der Bevölkerung hat keine Reserven, wenn die Kaufkraft sinkt und der Lohn knapp wird.

Hans Baumann, erschienen im «work», 15. September 2023

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In der Schweiz wird lang und viel gearbeitet

In der Schweiz wird viel und lang gearbeitetDas Gerede über die «faulen» Teilzeitarbeitenden. Die Arbeitszeit muss rückverteilt und nicht verlängert werden.

Seien es rechte Ökonomen wie der Luzerner Professor Schaltegger oder rechte Politiker wie der FDP-Präsident Burkart: Man(n) will uns weismachen, dass in der Schweiz immer weniger gearbeitet wird und wir alle wieder fleissiger sein müssen. Dabei stimmt das Gerede über die angeblich sinkenden Arbeitsstunden überhaupt nicht. Die offiziellen Zahlen ergeben ein ganz anderes Bild.

Längste Arbeitszeit in Europa. 2022 stieg die Anzahl aller geleisteten Arbeitsstunden in der Schweiz um 1,3 Prozent auf 7,9 Milliarden Stunden. Damit wurde das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht, vor allem weil die Zahl der Arbeitsstellen zunahm und Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten.Zwar ist die wöchentliche Regelarbeitszeit in den letzten Jahren leicht gesunken. In Europa liegt die Schweiz aber mit einer Vollzeit-Arbeitswoche von über 42 Stunden einsam an der Spitze[i], im europäischen Durchschnitt wird nur 38.3 Stunden gearbeitet. In den nordischen Ländern beträgt die Arbeitszeit zwischen 36 und 37 Stunden, in unseren Nachbarländern bei 38 oder 39 Stunden. Um neben der vertraglichen Vollarbeitszeit die tatsächlich gearbeiteten Stunden aller Erwerbstätigen zu ermitteln, werden die Teilzeitbeschäftigten mitberücksichtigt. So beträgt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz auf knapp 36 Stunden. Das ist aber auch nicht besonders wenig, sondern liegt ziemlich genau im europäischen Durchschnitt. Der Unterschied: In der Schweiz wird überdurchschnittlich viel Teilzeit gearbeitet. Die dadurch tiefere, tatsächliche Arbeitszeit muss zum Teil selbst finanziert werden, indem vor allem Frauen auf einen Teil des Lohnes verzichten! 

Rekordhohe Erwerbsbeteiligung. Es stimmt auch nicht, dass es überwiegend Beschäftigte mit einem hohen Bildungsgrad und hohen Löhnen sind, die Teilzeit arbeiten, weil sie sich das angeblich leisten können. Die meisten Teilzeitbeschäftigten arbeiten in Stellen ohne Hoch- oder Fachhochschulabschluss. Viele Teilzeit beschäftigte Frauen finden sich in Sektoren mit eher bescheidenen Löhnen, wie dem Gastgewerbe, persönliche Dienstleistungen oder im Verkauf. Hier gibt es auch einen hohen Anteil von Arbeitnehmenden, die eigentlich gern länger arbeiten möchten, jedoch keinen besseren Arbeitsvertrag bekommen (das heisst im Prinzip Teilarbeitslosen), u.a. weil die Arbeitgeber bei kleinen Pensen Sozialleistungen sparen können. 

Auch bei der Erwerbsquote, also dem Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, ist die Schweiz an der Spitze. Mit 67,5 Prozent liegt diese Quote fast 10 Prozent über dem europäischen Durchschnitt. Nur die Niederlande erreicht einen ähnlich hohen Wert. Grund für diesen Spitzenplatz ist eine überdurchschnittlich hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen mit Teilzeitpensen und der älteren Beschäftigten zwischen 55 und 65 Jahren. 

Auch unbezahlte Arbeit zählt! Setzt man das gesamte Arbeitsvolumen im Verhältnis zur Bevölkerung über 15 Jahren, ergibt sich ein gutes Mass für den «Fleiss» in einer Volkswirtschaft. In der Schweiz ergeben sich dabei pro Woche 22,8 Arbeitsstunden. Im europäischen Vergleich ist auch das ein Spitzenplatz, im Durchschnitt aller Länder sind es nur 19,5 Stunden.  Kein Wunder ist auch die Arbeitsproduktivität, gemessen im Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätige(n), in der Schweiz sehr hoch. Sie ist rund ein Drittel höher als im europäischen Durchschnitt.


[i] Die BfS-Statistik zur vertraglich festgelegten wöchentlichen Arbeitszeit weist im Durchschnitt 41 Stunden und 43 Minuten aus. Um dies international vergleichbar zu machen, hat das BfS die Berechnungsmethode an jene von Eurostat angepasst und kommt so auf 42 Stunden und 44 Minuten. 

Quelle: Eurostat, BfS

Bezeichnend ist, dass die rechten Kritiker bezüglich Arbeitsmoral nie erwähnen, dass es eine riesige Anzahl von unbezahlter Arbeit in Haushalt, Familie und Pflege gibt, die vor allem von Frauen geleistet wird. Das Ausmass dieser unbezahlten Arbeit übersteigt mit fast 10 Milliarden Stunden sogar das Arbeitsvolumen der Erwerbsarbeit. Und die Anzahl der unbezahlten Stunden nahm in den letzten 20 Jahren noch mehr zu als das Volumen der Erwerbsarbeit.

Arbeitszeitpolitik ist Verteilungskampf. Rechte Ökonomen (gibt es auch rechte Ökonominnen?) und neoliberale Politiker:innen wissen das: Bei der Arbeitszeit geht es um die Verteilung des Sozialprodukts, den Anteil, den die Lohnabhängigen davon bekommen und um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.  Die Schweiz gehört nach wie vor zu den Ländern mit der längsten Arbeitszeit und der höchsten Erwerbsbeteiligung. Zudem leistet jeder und jede Erwerbstätige immer mehr. Die rekordhohe Arbeitsproduktivität würde es längst erlauben, die bezahlte und nicht bezahlte Arbeit gerechter zu verteilen, damit alle mehr freie Zeit haben, Familie und Beruf besser vereinbar sind und die Arbeitszeitverkürzung nicht zu Lasten der Frauen geht. Dazu braucht es unter anderem einen neuen Anlauf für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbusse. Ein Ansatz hierfür ist die Einführung der 4-Tage-Woche, wie sie jetzt in einigen Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen diskutiert oder bereits erfolgreich erprobt wird. 

Quelle: OECD Statistik

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Kaufkraft in Europa sinkt dramatisch

Lohnentwicklung: Kaufkraft sinkt dramatisch

Hans Baumann, erschienen im work, 9.5.2023

Die Kaufkraft ist in Europa 2022 so stark zurückgegangen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In der EU stiegen die Löhne im Durchschnitt zwar um 4,4 Prozent. Da die Preise aber mit 9,2 Prozent mehr als doppelt so stark zulegten, erlitten die Arbeitnehmenden einen Kaufkraftverlust von fast 5 Prozent. Diese Reallohnverluste verteilten sich auf die verschiedenen EU-Staaten unterschiedlich: Am stärksten betroffen unter den Nachbarländern der Schweiz war Italien, während die Verluste für die Lohnabhängigen in Frankreich und Österreich geringer ausfielen.

LAGE SPITZT SICH ZU. Auch in der Schweiz ist die Kaufkraft deutlich gesunken. Dank der relativ tiefen Inflation von 2,8 Prozent fielen die realen Lohnverluste 2022 mit «nur» 1,9 Prozent tiefer aus als in den meisten anderen Ländern. Allerdings ist die Kaufkraft schon zum zweiten Mal in Folge zurückgegangen. Das heisst: Heute haben die Beschäftigten real 2,7 Prozent weniger Lohn als noch 2021. Die Schweizer Reallöhne sind damit auf den Stand von 2015 zurückgefallen. Verschärft wird die Situation durch den Anstieg der grundlegenden Lebenshaltungskosten. Diese sind viel stärker gestiegen als die durchschnittlichen Konsumentenpreise und treffen vor allem Haushalte mit tiefen Einkommen hart. So sind Mieten und Mietnebenkosten europaweit viermal so stark gestiegen wie die Löhne. In der Schweiz fallen zudem die Krankenkassenprämien stark ins Gewicht. Für viele Familien mit tiefen und mittleren Einkommen sind diese Kosten höher als die gesamte Steuerbelastung, Existenzängste nehmen rasant zu.

GEWERKSCHAFTEN GEFORDERT. Um zu verhindern, dass noch mehr Menschen in die Armut zurückfallen, gibt es nur ein Mittel: mehr Lohn. In vielen europäischen Ländern sind deshalb die Mindestlöhne schon heraufgesetzt worden, teilweise sogar deutlich. In einigen Branchen gibt es hingegen noch immer Arbeitskämpfe, weil die Lohnangebote der Arbeitgeber zu tief waren. In der Schweiz konnten in der Lohnrunde 2023 Lohnerhöhungen zwischen 2 und 3 Prozent erreicht werden, was den Nachholbedarf bei der Kaufkraft wenigstens zu einem Teil ausgleicht. Da die Inflation im laufenden Jahr aber voraussichtlich nur wenig zurückgehen wird, ist schon jetzt mit weiteren Kaufkraftverlusten zu rechnen. Die Gewerkschaften sind also stark gefordert.

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Die Profitrate sinkt: Hatte Marx recht, schafft sich der Kapitalismus von selbst ab?

Sinkende Profitrate: Hatte Marx recht, schafft sich der Kapitalismus von selbst ab?

Die Profitrate, also das Verhältnis der erzielten Gewinne zum eingesetzten Kapital, schwankt in der Schweiz stark je nach Verlauf der konjunkturellen Zyklen. Längerfristig gesehen ist diese Kennziffer aber seit einigen Jahrzehnten rückläufig. Hatte Marx also recht und schafft sich der Kapitalismus mit der Zeit selbst ab? Wie kann die Profitrate richtig berechnet werden und was bedeuten deren Höhe und Verlauf für die Wirtschaftsentwicklung?

Die Profitrate kann als Steuerungsgrösse einer Unternehmung oder einer Volkswirtschaft verstanden werden. Sie bestimmt also zum Beispiel darüber, ob und wie viel investiert wird, und gilt auch als Massstab für die Verwertungsbedingungen des Kapitals. Die Mehrwertrate hingegen bezeichnet das Verhältnis der Profite zu den Löhnen und ist ein Mass für die Verteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital (Profite) und Arbeit (Löhne).

Umverteilung geht weiter
Tendenziell ist die Profitrate in den letzten Jahrzehnten gesunken, das zeigen unsere Daten. Bereits Marx erwähnte zahlreiche Faktoren, mit denen es dem Kapital gelingen kann, den Fall der Profitrate aufzuhalten oder rückgängig zu machen, wie die Erhöhung der Mehrwertrate durch Rationalisierung, die Verbilligung der Arbeits- kosten etwa durch Globalisierung oder die «Verwohlfeilerung des Kapitals», das heisst Kapital sparenden technischen Fortschritt. Besonders die beiden letzten Faktoren dürften dazu geführt haben, dass sich die Profitrate in den letzten Jahrzehnten etwas stabilisiert hat – auch wenn sie weiter leicht rückläufig ist. Die Masse an Profiten und Vermögenseinkommen können auch durchaus zunehmen, während die Profitrate fällt. Dies war ab den 1950er-Jahren der Fall und trifft auch für die Schweiz zu: Die absolute Profitmasse hat kräftig zugenommen, mindestens im gleichen Ausmass wie die Summe aller Lohnbestandteile. Bis zur neoliberalen Wende hin zur Doktrin des Shareholder-Value orientierten sich viele Unternehmen offenbar eher an der Entwicklung der Profitmasse als an der reinen Kapitalrentabilität.

Profitrate halbiert
In der Grafik werden die Resultate von zwei verschiedenen Berechnungsmethoden verglichen. Dabei zeigt sich, dass die aktuelle Profitrate gemäss Berechnungen aus Amherst (EPWT) ca. 3 Prozent beträgt, gemäss den Denknetz-Berechnungen liegt sie aber bei rund 20 Prozent. Würde als massgebende Periode zum Beispiel fünf Jahre anstatt einem Jahr gewählt, wäre der Unterschied bedeutend kleiner.
Bezüglich der relativen Veränderung der Profitrate sind die Ergebnisse im Zeitverlauf sehr ähnlich, was die Grafik verdeutlicht. Die Profitrate nahm in der Nachkriegszeit ab den 1950er-Jahren bis zum Beginn der 1980er-Jahre stark ab, von über 40 Prozent auf rund 26 Prozent (Denknetz-Daten). Diese «sozialdemokratische» Periode war in ganz Europa gekennzeichnet durch starkes Wachstum, Systemkonkurrenz sowie Reformen im Arbeitsrecht und der Sozialversicherung. Mit der neoliberalen Wende in den 1980er-Jahren stabilisierte sich die Rate und nahm, unterbrochen von der Dotcom-Krise, wieder leicht zu bis zur Finanzkrise 2008, danach ging sie wieder leicht zurück. Über die gesamten 60 Jahre gesehen, ergab sich ziemlich genau eine Halbierung der Profitrate, und zwar gemäss beiden Berechnungsmodellen. Gemäss EPWT ist dieser Verlauf in der Schweiz ähnlich wie in den meisten anderen Industrieländern. Er entspricht durchaus der marxschen These des tendenziellen Falls der Profitrate durch die veränderte «organische Zusammensetzung» des Kapitals, also dem immer höheren

Quellen: EPWT, https://dbasu.shinyapps.io/World-Profitability/, BfS VGR, eigene Berechnungen

Anteil fixen Kapitals (zum Beispiel Maschinen und Gebäude) am gesamten, für eine Periode eingesetzten Kapital. Einen Hinweis darauf, wie sich die organische Zusammensetzung des Kapitals verändert hat, ergibt sich auch aus der VGR: Während bis zu den 1980er-Jahren die Abschreibungen in der Schweiz nur einen Bruchteil der Summe aller Lohn- und Sozialleistungen ausmachten, übersteigen allein die Abschreibungen (noch ohne Nettoinvestitionen) heute die Gesamtsumme aller Lohnbestandteile.

Offenbar ist es in den letzten Jahrzehnten, trotz massiver Rationalisierungen, Globalisierung, Finanzialisierung usw., schwieriger geworden, Kapital rentabel zu verwerten. Grundsätzlich muss aber eine allgemeine Tendenz der Profitrate auch kritisch hinterfragt werden, kommt es doch immer auch auf die gewählten Referenzwerte und auf die Länge der betrachteten Periode an. Denkbar ist auch, dass die Profitrate wieder steigt und es wäre aufschlussreich, die jeweiligen Phasen genauer zu untersuchen. Hier steht noch einiges an analytischer Arbeit an.* 

Hans Schäppi, Roland Herzog, Hans Baumann

*Eine Arbeitsgruppe im Denknetz wird an diesem Thema weiterarbeiten.
Der vollständige Artikel kann in der Denknetz-Zeitung Nr. 13/2023 gelesen werden.

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Ohne unbezahlte Care-Arbeit geht nichts

Ohne Unbezahlte Care-Arbeit geht nichts

Hans Baumann 31. März 2023, erschienen in work.

In den letzten 25 Jahren ist in der Schweiz das Volumen der unbezahlten Arbeit viel stärker angewachsen als ­jenes der bezahlten Arbeit. Unbezahlte Arbeit ist zu einem grossen Teil Haus- und Betreuungsarbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird. Seit 1997 berechnet das Bundesamt für Statistik (BFS) den Wert der unbezahlten ­Arbeit anhand der Lohnkosten ähnlicher T­ätigkeiten im Erwerbssektor. 2020 betrug der Wert der unbezahlten Arbeit stattliche 434 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) – also alle bezahlten und zum Marktwert berechneten Güter- und Dienstleistungen – erreichte im selben Jahr 695 Milliarden Franken.

PRODUKTIVITÄT STEIGT. Seit 1997 stieg das BIP preisbereinigt, das heisst unter Berücksichtigung der Inflation, um rund 47 Prozent. Das BIP wächst nicht nur, weil sich das ­Arbeitsvolumen erhöht, sondern auch, weil pro Arbeitsstunde immer mehr geleistet wird. Oder in anderen Worten: weil die Produktivität steigt. Hier gibt es erhebliche Unterschiede: In der Schweiz stieg die Produktivität pro bezahlte Arbeitsstunde seit 1997 um über 27 Prozent. Das ist mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern und eine wichtige Basis für den Wohlstand. Die realen Löhne konnten da mit einem Zuwachs von gut 15 Prozent allerdings nicht mithalten. Und werden die Stunden hinzugerechnet, die für unbezahlte Arbeit aufgewendet werden, ist die Produktivität nur um 19,5 Prozent gewachsen.

NEUE SICHT NÖTIG. Die Ökonomin ­Mascha Madörin hat sich schon vor Jahren mit dem Phänomen des «Auseinanderdriftens der Produktivitäten» auseinandergesetzt und aufgezeigt, dass sich die Produktivität je nach Branche sehr unterschiedlich entwickelt. So veränderte der rasante technische Fortschritt den Industriesektor erheblich, während eine derartige ­Rationalisierung der Arbeit in stark personenbezogenen Branchen – wie der Betreuung und der Pflege – viel weniger möglich und oft auch nicht erstrebenswert ist. Es braucht deshalb eine neue Sicht auf die Ökonomie jenseits der traditionellen Begriffe von Wachstum und Produktivität: Eine ­Tätigkeit alleine daran zu messen, wie stark sie sich rationalisieren lässt, ist falsch und ignoriert die immense Bedeutung der unbezahlten und bezahlten Care-Arbeit. Schliesslich wäre ohne sie der Fortbestand unserer Gesellschaft nicht möglich. Care-Arbeit ist also auch für den produktiven Sektor unabdingbar – und für die Wohlstandsmehrung sowieso.

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Immer mehr Reichtum für wenige

Immer mehr Reichtum für wenige

Ungleichheit in der Schweiz ist der Titel des Caritas-Almanachs 2023. Er beinhaltet eine umfangreiche Sammlung von Beiträgen über Fakten und Konsequenzen zunehmender Ungleichheit. «Da die hohen Vermögen und Einkommen nur beschränkt durch eigene Leistungen, sondern vor allem dank guter Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Vorleistungen möglich sind, sollten die damit zusammenhängenden Sondererträge wiederum der Öffentlichkeit zugutekommen», sagen Robert Fluder, Hans Baumann und Rudolf Farys in ihrem Beitrag für den diesjährigen Almanach.

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Zinspolitik verschärft Wohnungsnot

Die Zinspolitik der SNB befeuert die Wohnungsnot

Hans Baumann17. Februar 2023

Als Reaktion auf die steigende Teuerung hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) im letzten Dezember den Leitzins nochmals um 0,5 Prozent auf 1 Prozent erhöht. Sie folgte damit der Europäischen Zentralbank und der US-Zentralbank. Die höheren Zinsen sollten helfen, die Preise zu stabilisieren. Vor allem für Personen mit tiefen und mittleren Einkommen sind die steigenden Preise ein grosses Pro­blem. Massnahmen zur Kaufkrafterhaltung sind deshalb zweifellos nötig.

GROSSE SKEPSIS. In der Schweiz betrug die Teuerung im letzten Jahr 2,8 Prozent und war im November und Dezember 2022 rückläufig. Im Vergleich zu vielen europäischen Ländern, die immer noch mit Inflationsraten von 10 Prozent und mehr konfrontiert sind, ist das erfreulich. Hält der Trend an, sollte die Inflation in der Schweiz schon Ende Jahr wieder bei maximal 2 Prozent liegen. Das ist das Ziel der SNB. Trotzdem behält sich die Nationalbank vor, die Leitzinsen diesen Frühling nochmals zu erhöhen. Dabei zweifeln viele Ökonominnen und Ökonomen daran, ob das Schrauben an den Zinsen in der heutigen Situation überhaupt wirksam sei. Die gegen­wärtige Teuerung wurde nämlich nicht durch eine zu hohe Nachfrage ver­ursacht, sondern weil Rohstoff- und Energiekonzerne die Preise nach oben trieben. Eine Dämpfung der Nachfrage, auf die die Zinserhöhung abzielt, nützt in diesem Fall also wenig gegen die Inflation. Sie bewirkt hingegen, dass ­Unternehmen weniger investieren und auch weniger gebaut wird.

MIETEN STEIGEN. Deshalb ist die Zinserhöhung auch für Mieterinnen und Mieter eine schlechte Nachricht. Denn steigende Hypothekarzinsen führen zu steigenden Mieten. Und weil der Wohnungsleerstand schon heute sehr tief ist, wird es für viele Menschen immer schwieriger, ein bezahlbares Zuhause zu finden.

Die Zahlen zeigen: Der Wohnungsbau ist seit einigen Jahren rückläufig, insbesondere in den Grossstädten und den Agglos, wo die Wohnungsnot gross ist und mehr Wohnraum entstehen müsste (siehe Grafik). Es besteht die Gefahr, dass die SNB mit ihren Zinserhöhungen den Wohnungsbau jetzt noch mehr abwürgt.

Im Moment wächst die Schweizer Wirtschaft noch leicht, und die Arbeitslosigkeit ist tief. Doch auch dies kann sich durch eine verfehlte Zinspolitik schnell ändern. Dies ist Ende der 1980er Jahre passiert in einer ähnlichen Situation: Die verfehlte Geldpolitik der Nationalbank bescherte der Schweiz damals fast zehn Jahre Rezession.

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Schweizer Wirtschaft: Globaler geht kaum

Schweizer Wirtschaft: Globaler geht kaum

Hans Baumann, erschienen im work, 16. Dezember 2022

Quelle: Arman Spéth, Globale Warenketten, Arbeitsarbitrage und die Schweiz. In: Widerspruch Nr. 79 2022

Die Schweiz hat eine im höchsten Grad globalisierte Wirtschaft. Das misst sich nicht nur am Anteil des Aussenhandels an unserem Bruttoinland­produkt, sondern auch am Volumen der Investitionen, die von Schweizer Konzernen im Ausland getätigt werden. Laut der Schweizerischen Nationalbank (SNB) beschäftigten Schweizer Konzerne über zwei Millionen Menschen in Tochterbetrieben im Ausland. Weit über die Hälfte davon in Europa und in Nordamerika, rund 750’000 im globalen ­Süden. Damit hält die Schweiz im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl wahrscheinlich den Weltrekord.

AUSGENUTZT. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen den Investitionen, die Schweizer Konzerne in ­Europa und Nordamerika tätigen, und jenen, die sie in den Ländern des globalen Südens tätigen. Der Grossteil der Direktinvestitionen in Europa und Nordamerika besteht aus Firmen, die durch Fusion oder Zukauf in den Konzernbesitz gekommen sind. Es sind also keine Neuinvestitionen, sondern es werden bestehende Produktions­anlagen übernommen. Bei Schweizer Investitionen im globalen Süden ist das anders: ein grosser Teil besteht dort tatsächlich aus Neuinvestitionen, die getätigt werden, um das riesige Lohngefälle zwischen der Schweiz und diesen Ländern auszunützen und um höhere Profite zu erzielen.

AUSGELAGERT. Im globalen Süden ­arbeiten zudem viel mehr Beschäftigte für Schweizer Firmen als jene 750’000, die die Nationalbank ausweist. Denn: sie zählt nur Beschäftigte von Firmen, an denen Schweizer Konzerne eine massgebende Beteiligung haben. Nicht eingerechnet sind aber Subunternehmen oder Zulieferbetriebe. Wie viele Menschen im globalen Süden für den Export in die Schweiz tätig sind, hat der Sozialwissenschafter Arman Spéth ­untersucht. Er kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Allein in China, Indien, der Türkei und Mexiko arbeiteten im Jahr 2014 rund 800’000 Menschen für den exklusiven Export in die Schweiz, die meisten davon in Indien und China und ein grosser Teil in Zulieferbetrieben für die Schweizer Indus­trie. Gemessen an den rund 1,1 Millionen Menschen, die in der Schweiz im industriellen und gewerblichen Sektor angestellt sind, zeigt sich, welch riesige Anzahl von industriellen Arbeitsplätzen in den 2000er Jahren vom Norden in den globalen Süden verlagert wurden. In den letzten Jahren stockt die Globalisierung allerdings. Einige Konzerne haben umstrukturiert und deshalb Desinvestitionen vorgenommen. Seit den Pandemiejahren werden sogar wieder Produktionsstätten zurückverlagert. Gründe hierfür sind das geringere Wachstum in Südostasien, die Unterbrechung der Lieferketten und die damit verbundenen einseitigen Abhängigkeiten.

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Arbeitsvolumen: Frauen leisten am meisten

Steigendes Arbeitsvolumen: Frauen leisten am meisten

Das Arbeitsvolumen, also das Total aller geleisteten Arbeitsstunden, nahm in der Schweiz im letzten Jahr wieder deutlich zu. 2021 wurden 7,8 Milliarden bezahlte Arbeitsstunden geleistet, ein Plus von 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allerdings wurde damit noch nicht ganz wieder der Stand von vor der Pan­demie erreicht. Im ersten Pandemiejahr 2020 gingen die geleisteten ­bezahlten Arbeitsstunden nämlich stark zurück. Dies vor allem wegen der nötigen Kurzarbeit und anderer, krankheitsbedingter Absenzen.

MEHR CARE-ARBEIT. Die Zahl der unbezahlten Arbeitsstunden – also der Haus-, Familien- und Freiwilligen­arbeit – erreichte im Pandemiejahr 2020 hingegen mit 9,8 Milliarden Stunden einen neuen Höchststand. Dies ist nicht verwunderlich, mussten doch in der Pandemie nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch innerhalb der Familie mehr Menschen gepflegt und betreut werden. Laut Schätzungen ist diese Zahl 2021 ähnlich hoch geblieben (siehe Grafik). Demnach werden in der Schweiz pro Jahr rund 2 Milliarden Stunden mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet.

GESCHLECHTERGRABEN. In den letzten 20 Jahren zeigt die Entwicklung des Arbeitsvolumens eine deutliche Zunahme der bezahlten Arbeit, trotz einem geringen, aber kontinuier­lichen Rückgang der Wochen- bzw. Jahresarbeitszeit. Zurückzuführen ist das vor allem auf eine Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit und auf die Zuwanderung von Erwerbstätigen. Bemerkenswert ist aber auch hier der Vergleich zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit: Das Volumen der unbezahlten Arbeit ist seit der Jahrtausendwende viel stärker angestiegen als dasjenige der bezahlten ­Arbeit. Nämlich um über 22 Prozent gegenüber gut 13 Prozent bei der ­bezahlten Arbeit.

Mit 5,9 Milliarden Stunden leisten Frauen einen viel grösseren Anteil der unbezahlten Arbeit als Männer (3,9 Milliarden Stunden), auch wenn ihr Anteil sich in den letzten 20 Jahren leicht erhöht hat. Auch bei der Gesamtzahl aller geleisteten Arbeitsstunden liegen die Frauen mit fast 9 Milliarden Stunden gegenüber den Männern mit rund 8,7 Milliarden Stunden vorne. Sicher ist: Ohne die unbezahlte Familien- und Hausarbeit würde wohl gar nichts mehr gehen. Sie ist unentbehrlich für das Funktionieren unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft und für unseren Wohlstand.

Hans Baumann, erschienen im work, 4. November 2022

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Teuerung trifft Haushalte mit tiefen Einkommen stärker

Teuerung trifft Haushalte mit tiefen Einkommen stärker

Hans Baumann, erschienen im work, 16. September 2022

Wenn jetzt die Preise steigen, trifft das die Haushalte mit tiefen Einkommen hart. Denn die Kaufkraft ihres Einkommens sinkt stärker als jene bei mittleren und höheren Einkommen. Der Grund dafür: Personen mit wenig Einkommen müssen einen grösseren Teil davon für den täglichen Gebrauch und fürs Wohnen ausgeben. Also für Essen und Trinken sowie für Miete und Energiekosten. Und diese Preise sind seit Jahresfrist stärker gestiegen als etwa jene für Bekleidung und Möbel.

REICHE WENIGER BETROFFEN. Eine Untersuchung in Grossbritannien hat aufgezeigt, wie sich die unterschiedliche Zusammensetzung der Ausgaben auf die Einkommens­gruppen auswirkt. Unser Diagramm zeigt die Unterschiede umgerechnet auf die schweizerische Situa­tion mit einem durchschnittlichen Anstieg der Konsumentenpreise von 3,5 Prozent im August 2022. Der Warenkorb der Haushalte in den mittleren Einkommensgruppen hat eine Teuerung von 3,5 bis 3,7 Prozent. Für Haushalte mit tiefen Einkommen erhöhen sich hingegen die Konsumpreise um 3,8 bis 4,2 Prozent. Der Zehntel mit den höchsten Einkommen ist hingegen nur von einer Teuerung von 3,1 Prozent betroffen.

TEUERUNGSAUSGLEICH JETZT! Eine höhere Teuerung hat demnach auch Auswirkungen auf die Einkommensverteilung: Tiefe Löhne verlieren (noch) mehr an Kaufkraft, hohe Einkommen verlieren weniger. Auch aus gewerkschaftlicher Sicht ist deshalb eine hohe Teuerung ­problematisch. Drastische Gegenmassnahmen seitens der

Nationalbank wie eine schnelle Zins­erhöhung können jedoch zu Rezession und Arbeitslosigkeit führen. Was wiederum oft diejenigen mit geringeren Einkommen trifft. Besser wäre es etwa, die Extraprofite der Energiekonzerne zu besteuern und mit diesen Mitteln Haushalten mit mittleren und tiefen Einkommen die Heizkosten zu verbilligen.Die wichtigste Antwort auf die ­steigende Teuerung sind aber ein ­Teuerungsausgleich und Lohn­erhöhungen. Die tiefen Einkommen müssen dabei mehr angehoben werden, weil sie stärker von der Teuerung betroffen sind, etwa durch einen einheitlichen ­Teuerungsausgleich in Franken für alle oder eine deutliche Anhebung der vertraglichen und gesetzlichen Mindestlöhne.

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Die Reichsten verursachen am meisten CO2

Die Reichsten verursachen am meisten CO2

Hans Baumann, erschienen im work, 20. Mai 2022

Die Ungleichheit bei den erzeugten CO2-Emissionen ist beträchtlich. Weltweit, aber auch innerhalb einzelner Länder und Regionen. So verursachen die reichsten 10 Prozent der Welt­bevölkerung fast die Hälfte aller klimaschädigenden CO2-Emissionen. Die ­ärmere Hälfte der Bevölkerung verursacht dagegen nur ganze 12 Prozent. Selbst das allerreichste Prozent ­verursacht mit 17 Prozent noch mehr CO2-Emissionen als die ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung.

REICHE KLIMAFEINDE. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die wohlhabenden Regionen der Welt am meisten CO2 erzeugen. Zwar stimmt es, dass die durchschnittlichen Pro-Kopf- Emissionen in den USA rund doppelt so hoch sind wie in Europa und etwa viermal so hoch wie in Lateinamerika. Aber auch innerhalb der USA oder Europas sind die Emissionsunterschiede zwischen Arm und Reich riesig. So betragen in Europa die CO2-Emissionen bei den reichsten 10 Prozent fast 30 Tonnen pro Jahr und Kopf, während die ­unteren 50 Prozent der Bevölkerung pro Kopf nur 5,1 Tonnen verbrauchen. In vielen Industrieländern hat der CO2-Ausstoss pro Kopf bei der ärmeren Hälfte der Bevölkerung seit 1990 abgenommen, bei den reichsten 10 Prozent jedoch nochmals deutlich zugenommen. Die Schere zwischen unten und oben ist grösser geworden. Für die Schweiz gibt es solche Daten nicht, aber sie dürften in einer ähnlichen Grössenordnung liegen. Sollen die Ziele des Weltklimarates erreicht werden (Erderwärmung maximal + 1,5 Prozent), müssten die CO2-Emissionen pro Kopf auf etwa 2,2 Tonnen verkleinert werden. Das würde am Beispiel Europas für die ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung eine gute Halbierung bedeuten, in diese Richtung geht auch der Trend. Ganz anders sieht es bei den reichsten 10 Prozent aus: Sie müssten ihren CO2-Ausstoss um über 90 Prozent reduzieren.

WER BEZAHLT? «Klimagerechtigkeit» heisst, dass nicht nur die reichen Länder, sondern auch die reicheren Schichten der Bevölkerung einen überdurchschnittlichen Anteil an der Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten haben. Sie haben bisher auch überdurchschnittlich vom Ressourcen­verbrauch dieser Erde profitiert. Für die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre geht es konkret auch um die Frage, wer die ­nötigen Massnahmen zur Bewältigung der Klimakrise, also dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, bezahlen soll.

(Quelle: World Inequalitiy Database, Chancel (2021)

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Die Schweiz ist hoch gerüstet

Schweiz bereits heute hochgerüstet

Hans Baumann, erschienen im Work, 1. April 2022



Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der erschreckenden Kriegsbilder aus dieser Region werden die Stimmen nach Aufrüstung immer lauter, auch in der Schweiz. Es ist nachvollziehbar, dass viele Menschen jetzt Angst haben und das Sicherheitsbedürfnis steigt. Gleich­zeitig ist aber offensichtlich, dass Konflikte nicht mit einem Ankurbeln der Rüstungsspirale, mit Waffengewalt und Krieg gelöst werden können.

RÜSTUNGSREKORD. Oft wird von der Rechten und der Rüstungslobby behauptet, es werde seit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 immer weniger für das Militär ausgegeben. Die Fakten widerlegen dies deutlich. In der Schweiz erreichte der Rüstungsetat im Jahr 2020 mit 5,7 Milliarden ­Dollar (rund 5,4 Milliarden Franken) einen neuen Rekord. Zu Beginn der 1990er Jahre lagen die Militäraus­gaben bei gut 4 Milliarden pro Jahr, gingen dann zurück und erhöhten sich im neuen Jahrtausend wieder kontinuierlich. Im internationalen Vergleich werden in der Schweiz die Rüstungsausgaben oft an ihrem Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) gemessen und liegen so mit 0,8 Prozent des BIP eher tief. Dabei wird übersehen, dass die Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eines der höchsten BIP der Welt hat. Werden die Rüstungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung gemessen, so wie es das renommierte Internationale Friedensinstitut in Stockholm SIPRI ausrechnet, sieht die Sache anders aus. Die Schweiz gehört hier mit 659 Dollar zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben. Die ­Militärausgaben sind höher als im Nachbar- und Natoland Deutschland und höher als im ebenfalls neutralen Schweden, das flächenmässig mehr als zehnmal grösser ist.

RICHTIG RECHNEN! In vielen Ländern beinhalten die Militärbudgets allerdings auch die Zivilschutzausgaben, in der Schweiz nicht. Zudem sind bei den Schweizer Zahlen die Militärausgaben der Kantone und Gemeinden sowie die Versicherungs- und Erwerbsersatzleistungen nicht enthalten (work berichtete). Zählt man diese Leistungen hinzu, dürfte die Schweiz Pro-Kopf-Militäraus­gaben von über 900 Dollar aufweisen und damit in Europa nur noch vom Natoland Norwegen übertroffen werden. Die Schweiz ist bereits ­heute hochgerüstet. Ein weiterer Ausbau der Armee würde die Rüstungsspirale ankurbeln und wäre kein Beitrag zur Friedenssicherung.

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Reiche bedrohen Demokratie

Superreiche bedrohen Demokratie

Die Superreichen bedrohen die Demokratie

Hans Baumann, erschienen im work, 18. Februar 2022

DIE SCHERE GEHT AUF. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Steuerverwaltung für 2018 zeigen einen steilen Anstieg der höchsten Vermögen in der Schweiz. Das reichste Prozent der Steuerzahlenden besass Anfang der 1990er Jahre 30 Prozent aller Vermögen, was im internationalen Vergleich schon damals ein Spitzenwert war. Bis 2018 ist dieser Anteil auf fast 45 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass die Wohlhabendsten ihren Anteil am Gesamtvermögen innert knapp dreier Jahrzehnte um 50 Prozent steigern konnten. Auch im Ländervergleich heben die Schweizer Reichen ab. Selbst in den Vereinigten Staaten, die eine ähnlich ungleiche Vermögensverteilung aufweisen, betrug der Anstieg seit 1990 «nur» 35 Prozent.

Quelle: ESTV, Gesamtschweizerische Vermögensstatistik (ohne Berücksichtigung der BVG-Ersparnisse), World Inequality Data WID.

REKORD-ZUWACHS. Ganz anders sieht es am anderen Ende der Wohlstandsverteilung aus. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besass 2018 nach wie vor nur 1,3 Prozent des Gesamtvermögens, sogar etwas weniger als 1990. In absoluten Zahlen: Gegen drei Millionen Steuerpflichtige verfügten über ein Vermögen von etwa 28 Milliarden Franken. Die 80 000 Reichsten in der Schweiz versteuerten hingegen rund 970 Milliarden Franken! Auch nach 2018, also während der Coronajahre, ist die Verteilung ungleicher geworden. Gemäss Weltbank konnten die 10 reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit Beginn der Pandemie sogar verdoppeln. Auch in der Schweiz konnten die 300 reichsten Personen ihr Vermögen im Coronajahr 2021 deutlich steigern, nämlich gleich um 115 Milliarden Franken. Das war der höchste jährliche Zuwachs seit Einführung des «Bilanz»-Rankings im Jahr 1989.

MEINUNGSMACHER. Die zunehmende Ungleichheit beim Vermögen ist ein wirtschaftliches und soziales Problem, weil immer mehr Vermögen dort angelegt werden, wo am meisten Rendite winkt, anstatt dort, wo tatsächliche Bedürfnisse vorhanden sind. Aber auch politisch kann diese Ungleichheit grosse Machtverschiebungen bewirken und demokratische Entscheide in Frage stellen. Einen kleinen Vorgeschmack dazu haben wir in der Schweiz anlässlich der Volksabstimmungen vom 28. November 2021 bekommen. Die Propagandamaschinerie für die «Justizinitiative» und gegen das Covid-19-Gesetz wurde zum grössten Teil von drei Superreichen finanziert, dem Unternehmer Adrian Gasser und den Milliardärinnen Simone Wietlisbach und Rahel Blocher.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind diesmal zwar nicht auf deren Abstimmungskampagnen hereingefallen. Aber wie lange kann das noch gutgehen? Bei knappem Ausgang kann der finanzielle Einsatz einzelner Superreicher durchaus entscheidend sein. Es ist deshalb für das Funktionieren unseres demokratischen Systems nötig, die immer mehr auseinanderklaffende Schere bei der Vermögensverteilung wieder zu schliessen. Sonst laufen wir Gefahr, dass reiche Familien und Unternehmen das demokratische System aushebeln.

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Eine Solidaritätsabgabe auf hohen Vermögen

Eine Solidaritätsabgabe auf hohen Vermögen

Zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Krisen schlagen wir eine Solidaritätsabgabe auf hohen Vermögen vor. Diese Abgabe betrifft nur wenige hohe Vermögen und soll der öffentlichen Hand rund 40 Milliarden Franken zur Krisenbewältigung und Zukunftsprojekte einbringen.

Mit der Klima- und der Coronakrise sind wir in eine neue Epoche eingetreten. Wir auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit Krisen konfrontiert, aus denen es kein Zurück zum Zustand vor den Krisen mehr geben wird. Klimaerhitzung, wirtschaftliche Turbulenzen, Pandemien, Einbrüche in der Nahrungs- und Wasserversorgung, politische und soziale Verwerfungen usw. verbinden sich zu Problemlagen, die uns fundamental herausfordern. Die Eindämmung und die Bewältigung dieser Krisen lösen einen enormen öffentlichen Finanzbedarf aus. Zum Beispiel müssen wir mit der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft rasche Fortschritte machen, damit der Klimawandel so gut wie noch möglich eingedämmt werden kann. Es geht aber auch – und in zunehmendem Masse – um die Bewältigung der Folgen der Klimaerhitzung, z.B. in den Bereichen Hochwasser, Schutz vor Extremhitze, Umstellungen in der Landwirtschaft, Schutz vor den Folgen des Auftauens von Permafrost in den Bergen usw.. Und ebenso braucht es ein hohes Engagement, um armen Ländern bei der Krisenbewältigung unter die Arme zu greifen. Zur Beschaffung der finanziellen Ressourcen braucht es Sondersteuern, wie sie in der neueren Geschichte in Krisenzeiten schon wiederholt erhoben worden sind. Im folgenden präsentieren wir den Vorschlag einer Solidaritäts-Vermögensabgabe. Sie verbindet die Mittelbeschaffung mit einer Rückverteilung von Vermögenswerten von oben nach unten, also aus den spekulativ geladenen Finanzmärkten in die Nützlichkeitszonen der Gesellschaft, und trifft damit zwei Fliegen auf einen Schlag.

Gegenwärtig sind die hohen privaten Vermögen in der Schweiz ein enormes und nur wenig genutztes Steuerpotential. So ist das Reinvermögen in der Schweiz in den letzten Jahren massiv angestiegen, insbesondere auch im Vergleich zur Entwicklung bei den Einkommen. Pro Kopf betrug das Vermögen im Jahr 2019 durchschnittlich CHF 460‘000.- und lag damit zwei bis drei Mal über dem Durchschnitt der Nachbarländer (Annaheim & Heim 2021). Der Durchschnitt sagt jedoch nicht viel aus, denn diese Vermögen sind überaus ungleich verteilt. So verfügen alleine schon die 0.3% Reichsten über fast ein Drittel aller Vermögenswerte (30.9%). Während sich die Vermögen über eine längere Periode ähnlich entwickelten wie die Einkommen, sind sie in den letzten 20 Jahren deutlich stärker angestiegen. Heute entspricht gemäss Baselgia und Martinez (2020) das private Vermögen in der Schweiz dem 7.4-fachen des Nationaleinkommens.



Vermögensabgaben sind in der Geschichte der letzten hundert Jahre wiederholt erhoben worden. Sie sind also ein «klassisches» Instrument, um Mittel zur Bewältigung aussergewöhnlicher Krisen zu beschaffen.

Folgendes sind die Eckwerte des Modells: Erhoben werden soll die Abgabe auf Vermögensanteile, die über einer hohen Freigrenze von fünf Millionen CHF liegen. Die Abgabe soll während mindestens zehn Jahren geschuldet sein. Der jährliche Steuersatz soll bei drei, vier und fünf Prozent liegen, progressiv abgestuft nach der Höhe des Gesamtvermögens. Der geschätzte Ertrag einer solchen Abgabe beläuft sich über die gesamten zehn Jahre auf CHF 400 Mrd (40 Mrd pro Jahr). Die Ausrichtung der Abgabe auf hohe Vermögensanteile ist gut begründet, wie wir im Text genauer ausführen werden. Unter anderem ist es gerade ja die Dynamik der gesteigerten Profite und Vermögenserträge, die erheblich zur Verschärfung diverser Problemlagen beigetragen hat (Klimaerhitzung, verschärfte Standortkonkurrenz und zunehmender Steuerwettbewerb nach unten, wachsende soziale Spannungen). Ein Korrektur dieser ungleichen Verteilung des Reichtums dämpft also auch diese Dynamik.

Sonder-Vermögensabgaben sind unserer Auffassung nach keine Alternative zu permanenten Steuern, sondern eine Ergänzung im Hinblick auf die Bewältigung ausserordentlicher Krisen. In solchen Krisen fallen sehr hohe Ausgaben an, und entsprechend nimmt auch der öffentliche Mittelbedarf sprunghaft zu. Eine Sondersteuer muss für solche ausserordentliche Ausgaben konzipiert sein, nicht für regelmässige Ausgaben (für die es eben auch regelmässige Einnahmen braucht). Eine Sondersteuer kann zudem rasch realisiert werden, weil sie ausserhalb des oft komplexen Gefüges der gegebenen steuerlichen Regelungen konzipiert ist. Gerade in Krisenzeiten ist es dabei besonders angezeigt, sozial ausgleichende Sondersteuern zu erheben. Krisen treffen in aller Regel in die weniger begüterten Leute stärker als die Reichen; überdies erweisen sich viele Reiche oft als eigentliche Krisengewinnler (wie gerade wieder in der Coronakrise). Mit einer Vermögensabgabe kann die dadurch nochmals ansteigende materielle Ungleichheit erfolgreich kompensiert werden.

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Teufelskreis Steueroasen: Schafft Biden den Stop?

Kann Biden die Steueroasen austrocknen?

Anfang Jahr hatte US-Präsident Joe ­Biden vorgeschlagen, die Mindest­steuer auf Unternehmensgewinnen global auf 21 Prozent festzusetzen. Die Finanzminister der grössten ­Handels- und Industrienationen haben diesen Vorschlag jetzt im Sommer ziemlich abgeschwächt und sich innerhalb der G 20 auf einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent geeinigt. Gelten würde diese Bestimmung für grosse, international tätige Unternehmen.

SCHUB NACH UNTEN. Die Unternehmenssteuern sind in den letzten Jahren weltweit stark heruntergefahren worden. Seit 1980 hat sich der Steuersatz im Durchschnitt aller OECD-Länder mehr als halbiert und ist von rund 48 auf 23 Prozent gesunken. Neue Steueroasen wie die Cayman-Inseln oder Irland sind entstanden und haben den Steuerwettbewerb zwischen den Ländern angefeuert. Zu diesen Steueroasen zählen viele Schweizer Kantone. Auch in der Schweiz hat sich die Steuerbelastung der Unternehmen mehr als halbiert. Einen Schub nach unten hat es durch die letzte Revision der Unternehmenssteuern (STAV) ge­geben. Dieses Jahr beträgt der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz nur noch 14,9 Prozent, und viele Kan­tone liegen deutlich darunter, so etwa Zug mit 11,9 oder Luzern mit 12,3 Prozent. Für grosse international tätige Firmen oder Holdinggesellschaften gibt es zusätzliche Steuererleichterungen, so dass der Steuersatz je nach Kanton nochmals um bis zu 8 Prozent tiefer sein kann.

MINIMALLÖSUNG. Die Wirkung des ­fatalen Steuerdumpings war nicht nur, dass einzelne Länder Steuereinnahmen an Steueroasen verloren haben, sondern auch, dass die Unternehmenssteuern insgesamt zurückgegangen sind. Als Ausgleich wurden deshalb die Steuern auf Löhnen oder die Mehrwertsteuer erhöht. Vom Mindeststeuersatz von 15 Prozent werden zahlreiche Schweizer Kantone betroffen sein, und die neue Regelung dient einer gewissen Steuerharmonisierung innerhalb der Schweiz. Deshalb ist eine solche globale Regelung ein Fortschritt: im Interesse aller Arbeitnehmenden, deren Steuerbelastung in den letzten Jahren zugenommen hat, und auch der KMU, die nicht das Privileg zusätzlicher Steuererleichterung haben oder ihren Firmensitz in Steueroasen verlegen können.

Hans Baumann, September 2021

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Vermögenseinkommen als Treiber der Ungleichheit

Vermögenseinkommen als Treiber der Ungleichheit

Vermögen sind in der Schweiz im internationalen Vergleich extrem ungleich verteilt. Das reichste Prozent der Steuerzahlenden besitzt über 42 Prozent der Privatvermögen. Die meisten Leute beziehen ihr Einkommen zu einem ganz grossen Teil in Form von Löhnen oder Renten. Nur bei einer kleinen Schicht von Superreichen besteht das Einkommen überwiegend aus Vermögenseinkommen, also aus Wertschriften- oder Liegenschaftserträgen. Da die hohen Vermögen in den letzten Jahren stark zugelegt haben, treibt dies die Ungleichheit an. Zudem sind die Vermögenssteuern gesunken. Die Steuerpolitik muss wieder für eine gerechtere Verteilung sorgen. Die Autoren Fluder, Farys und Baumann belegen dies anhand der Steuerdaten des Kantons Bern.

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Aufstand der freundlichen Verschwörungserzähler – Aufstand der Mittelschicht

Corona-Demos: Aufstand der Verschwörungserzähler

Die ökonomische und soziale Krise treibt die Leute auf die Strasse. Viele fragten sich nach der Corona-Demonstration in Liestal, wofür eigentlich die aus der ganzen Schweiz kommenden Teilnehmenden einstehen, welches ihr Hintergrund ist und wer hinter der Organisation dieser Kundgebungen steht. Was Liestal für die Schweiz war, war die Corona-Demonstration in Kassel mit über 20‘000 Teilnehmenden für Deutschland. Michael Lacher fand in Kassel rechte und linke Verschwörungstheorien, verständliche Existenzängste, viel Skurriles aber auch Bedrohliches. Vieles, was er in Kassel beobachtet hat, dürfte auch auf die entsprechende schweizerische Szene zutreffen.

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Ungleichheit verschärft sich – Wege aus der Corona-Krise

… getan werden, um die Corona-Krise zu überwinden?
Im neusten Jahrbuch des Denknetzes «Europa zwischen Reform und Zerfall» haben wir wiederum einen Verteilungsbericht mit einem aktualisierten und erweiterten Gleichheitsmonitor publiziert. Aus diesem Anlass habe ich mit dem Ökonomen Basil Oberholzer ein Gespräch geführt. Wir sprechen nicht nur über die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern auch über die durch Corona verursachte Krise und mögliche wirtschaftspolitische Gegenstrategien.

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Die Nationalbank-Milliarden gehören dem Volk

SNB- Milliarden für Existenssicherung und Klimaschutz

Die kumulierten Gewinne der Schweizerischen Nationalbank SNB haben sich in den letzten Jahren auf die unglaubliche Summe von 176 Milliarden Franken angehäuft. Dies nach Abzug der jährlichen Dividendenauszahlung und der Vergütungen an Bund und Kantone. Diese Reserven werden in der Bilanz Ende Jahr als «Rückstellungen und Eigenkapital» ausgewiesen. Der grösste Teil davon ist die so genannte «Ausschüttungsreserve». Diese betrug per Ende 2020 ganze 98 Milliarden Franken. Der andere Teil sind Rückstellungen für Währungsschwankungen. Laut Gesetz steht diese Ausschüttungsreserve der öffentlichen Hand zu. Auf öffentlichen Druck hin will nun die SNB aus dieser Reserve nicht mehr jährlich vier Milliarden wie bisher, sondern neu sechs Milliarden an Bund und Kantone ausschütten (siehe dazu auch work vom 5.2. «und der Jordan bewegt sich doch»). 

20 statt 6 Milliarden

Diese sechs Milliarden sind jedoch nur ein kleiner Schritt. Denn im erwähnten Topf verbleiben 2021 immer noch 92 Milliarden, die eigentlich der Öffentlichkeit gehören. Wir befinden uns in der grössten Krise seit langem. Seit den 1970er Jahren ist die Wirtschaft nicht mehr so stark geschrumpft wie letztes Jahr.  Hunderttausende von Arbeitnehmenden sind arbeitslos oder auf Kurzarbeit, Selbständigerwerbende verlieren ihre Einkünfte. Bund und Kantone müssen mit Milliarden-Beträgen einspringen und tun sich damit schwer. 

Fachleute befürchten, dass dieses Jahr viele Leute unter die Armutsgrenze fallen werden und die Anzahl Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, deutlich zunimmt. Unverständlich, dass in einer solchen Situation die SNB auf einem Grossteil ihrer Gewinne sitzen bleibt und sich nicht mehr bewegt. Der Think Tank «Denknetz» fordert deshalb, dass die SNB in den nächsten zwei Jahren nicht nur 6 sondern zusätzlich 20 Milliarden an Bund und Kantone ausschüttet. Diese Milliarden sollen gezielt für die Existenzsicherung in der Corona-Krise, für notwendige Investitionen in den Klimaschutz sowie zur Förderung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen im Service Public eingesetzt werden. Auch aus ökonomischer Sicht wäre eine solche Ausschüttung nur positiv. Denn Inflationsgefahr besteht nicht und die Wirtschaft würde durch eine solche Finanzspritze angekurbelt. 

Quelle: Geschäftsberichte SNB
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Corona-Krise wird zur sozialen Krise

Corona-Krise wird zur sozialen Krise

Hans Baumann und Robert Fluder / 3. Feb 2021 Die Corona-Krise verschärft die soziale Ungleichheit in der Schweiz. Korrekturen sind notwendig und machbar.f*

(Red) Die Autoren Hans Baumann und Robert Fluder beschäftigen sich innerhalb des sozialkritischen Think-Tank «Denknetz» vor allem mit Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung. Das Denknetz veröffentlicht dazu jährlich einen Verteilungsbericht und einen «Gleichheitsmonitor».

Die Corona-Krise verschärft die Ungleichheit. Viele Beschäftigte waren und sind von Kurzarbeit betroffen oder wurden arbeitslos und erlitten erhebliche Einbussen beim Einkommen.

Die Pandemie verschärft die bestehenden Ungleichheiten

Im ersten Quartal 2020 ist die Kurzarbeit in einem noch nie da gewesenen Umfang angestiegen. Ende April waren 1.3 Millionen Arbeitnehmende auf Kurzarbeit gesetzt, was fast einem Drittel aller Arbeitnehmenden entspricht. Mit der Erholung der Wirtschaft ist diese Zahl zwar deutlich zurückgegangen, sie betrug im Oktober aber immer noch fast 220’000 und im November haben sich als Folge der zweiten Welle 645’000 Arbeitnehmende für Kurzarbeit vorangemeldet (SECO 2021).

Auch die Arbeitslosigkeit ist im Dezember 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat um 46’000 angestiegen. Für 2021 liegt die Spannweite der Prognosen für die Arbeitslosenquote zwischen 3.3 und 3.9 Prozent. Angesichts der verschärften Corona-Massnahmen vom Januar 2021 trifft die pessimistischere Prognosezahl wohl eher zu: gegenüber 2019 würde dies einen Anstieg um fast 70 Prozent bedeuten.

Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Erwerbsausfälle treiben viele Familien und Alleinstehende in die Armut und in die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Hart betroffen sind vor allem Kulturschaffende, kleinere Gastronomiebetriebe und deren Angestellte, die Reisebranche, Personen mit befristeten und prekären Arbeitsverhältnissen und ganz besonders Frauen, die im Care-Bereich, im Detailhandel und in persönlichen Dienstleistungen beschäftigt sind.

Ein Grossteil davon war bereits vor der Krise mit tiefen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert. Ihre Lage hat sich durch die Corona-Krise weiter verschärft. Muss ein Haushalt mit einem Einkommen auskommen, das knapp über der Armutsgrenze liegt, und das sind nicht wenige (vgl. Fluder et al. 2020), dann hat eine Einkommenseinbusse aufgrund einer Arbeitslosigkeit, einer Kurzarbeit oder einer Umsatzeinbusse zur Folge, dass die betreffenden Personen in Armut abgleiten.

In der Schweiz waren die Lohneinbussen zwischen dem ersten und zweiten Quartal 2020 aufgrund der Arbeitslosigkeit und einer Reduktion der Arbeitsstunden mit durchschnittlichen 3.7 Prozent im europäischen Vergleich bisher relativ gering (EU Durchschnitt -6.5 Prozent). Der grösste Teil davon war die Folge einer verringerten Zahl von Arbeitsstunden (ILO 2020: Wage Report). Es ist aber davon auszugehen, dass Erwerbstätige mit hohem Einkommen sowie ein grosser Teil der Kernbelegschaft mit einer gesicherten Beschäftigung und die Rentner*innen kaum von krisenbedingten Einkommenseinbussen betroffen waren, während auch in der Schweiz hauptsächlich Niedriglohnbezüger*innen und Menschen mit unsicheren Arbeitsverhältnissen höhere Einbussen hinnehmen mussten.

Die Krisen-Gewinner

Es gibt auch deutliche Gewinner der Corona-Krise. Dabei handelt es sich meist um Gutbetuchte, die bereits vor der Krise ihren Reichtum erheblich ausbauen konnten. Unternehmen der IT-Plattformwirtschaft, Onlineshops, die Pharmaindustrie und verwandte Bereiche konnten ihre Umsätze und Gewinne massiv steigern. In den USA konnten allein sieben der reichsten Milliardäre (Besitzer von IT- und Plattformfirmen) während der Pandemie 219 Milliarden Dollar zulegen, während gleichzeitig Millionen von Beschäftigten arbeitslos wurden. Gemäss der Erhebung der «Bilanz» hat das Vermögen der 300 reichsten Schweizer im Coronajahr um weitere 5 Milliarden zugenommen (Luzerner Zeitung, 26.11.2020). Als Folge der Krise haben sich die bestehenden Ungleichheiten somit deutlich verschärft.

Drei Jahre Lohnstillstand

Bereits in den Jahren vor der Pandemie-Krise hatte die Ungleichheit in der Schweiz zugenommen. Die Gewerkschaften konnten nach der Frankenaufwertung 2015 nur geringe Lohnerhöhungen aushandeln. Im Durchschnitt erhöhten sich die Löhne seit 2016 um 2.5 Prozent. Allerdings stieg die Kaufkraft wegen der Teuerung in vier Jahren nur gerade um ein Prozent. In der gleichen Zeit erhöhten sich das Bruttoinlandsprodukt um 7.3 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 5.5 Prozent. Die Nettogewinne der Unternehmen haben um fast 9 Prozent zugenommen. Die Gewinner der letzten Jahre waren demzufolge Unternehmen und Vermögende. Die Verteilung des Wohlstands hat sich deutlich von den Lohnarbeitenden zum Kapital verschoben (Denknetz Gleichheitsmonitor 2020).

Quellen: Lohnindex BfS, Arbeitsproduktivität nach tatsächlichen Arbeitsstunden, BfS. Ein negativer Wert bedeutet, dass die Reallöhne der Arbeitsproduktivität hinterherhinken, d.h., in diesem Ausmass hat sich die Verteilung von der Arbeit zum Kapital verschoben.Übersteigt der Zuwachs der Reallöhne denjenigen der Arbeitsproduktivität, hat sich die Verteilung zu Gunsten der Arbeitnehmenden entwickelt.

Durch die Corona-Krise werden sich hier noch grössere Verschiebungen ergeben, weil insbesondere viele Personen im unteren Teil der Einkommenspyramide von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Lohnkürzungen bedroht sind.

Verteilung des Wohlstands: Die Schere geht auf

Die Vermögen sind in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern ausgesprochen ungleich verteilt: Ein Prozent der Bevölkerung verfügt inzwischen über 42.5 Prozent aller Vermögen. Fast ein Viertel der Haushalte hat kein Vermögen oder Schulden. Über 55 Prozent der Haushalte verfügen über keine oder nur geringe Vermögen (d.h. sie haben weniger als 50’000 Franken). Die Reichsten haben auch in den letzten zehn Jahren nochmals zugelegt (Baumann, Fluder 2020). Schaut man weiter zurück, wird diese Umverteilung von unten nach oben noch deutlicher:

Quellen: ESTV, Gesamtschweiz. Vermögensstatistik, div. Jahre. World Inequality Database WID

So besass das wohlhabendste Prozent der Steuerzahlenden in der Schweiz bereits in den 1980er und 1990er Jahren mit rund einem Drittel einen sehr hohen Anteil aller Vermögen und konnte diesen Anteil noch erheblich erhöhen: Von 30 Prozent im Jahr 1990 ist dieser auf über 42 Prozent (2016) angestiegen und während der Pandemie konnten die Reichsten ihr Vermögen noch weiter vergrössern.

Dabei ist die Ungleichheit bei den Vermögen in der Schweiz auch im internationalen Vergleich sehr ausgeprägt. Aber auch beim Einkommen konnten die hohen und ganz hohen Einkommen in den letzten zehn Jahren überdurchschnittlich zulegen.

Quelle: World Inequality Database WID.
*Frankreich und Österreich: Basis steuerbares Einkommen der erwachsenen Personen, bei den anderen Ländern: Basis steuerbares Einkommen der Steuerzahlenden.

Das schweizerische Steuersystem ist keineswegs die Umverteilungsmaschinerie, wie dies manchmal suggeriert wird. OECD-Statistiken zeigen, dass der Rückverteilungseffekt der Steuern hierzulande deutlich kleiner ist als in vielen anderen Ländern. Gutverdienende und Vermögende wurden in den letzten Jahrzehnten zudem durch verschiedene Steuerreformen entlastet. Besonders die Unternehmenssteuern wurden stark reduziert. Unter Berücksichtigung der letzten Unternehmenssteuerreform STAV zahlen «ordentlich besteuerte» Unternehmen nur noch halb so viel Steuern wie vor 40 Jahren.

Armut nimmt zu

Während sich der Reichtum zunehmend an der Spitze der Gesellschaft konzentriert, hat die Zahl der von Ausgrenzung und Armut Betroffenen zugenommen. So weist die Sozialhilfe- und die Armutsquote seit 2013 eine steigende Tendenz auf und trotz Wirtschaftswachstum hat die Erwerbslosenquote bis 2019 nur wenig abgenommen. Dank der staatlichen Unterstützung und den Massnahmen der Sozialversicherungen ist gemäss dem Fallzahlenmonitoring der SKOS die Zahl der Personen in der Sozialhilfe während der Pandemie zwar bisher stabil geblieben. Bedingt durch die Zunahme von Aussteuerungen, die steigende Zahl von bedürftigen Selbständigen und die geringere Ablösequote wegen des erschwerten Zugangs zum Arbeitsmarkt schätzt die SKOS jedoch, dass die Zahl der Personen in der Sozialhilfe bis 2022 um 58’000 Personen oder um 28 Prozent zunehmen wird (SKOS 2021). Dazu kommt eine steigende Zahl von Haushalten mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum, welche ihr Recht auf Sozialhilfe nicht geltend machen wollen oder dies nicht können (vgl. Fluder et al. 2020).

Quellen: BfS SAKE, Sozialhilfestatistik, Statistik über Armut und materielle Entbehrung (SILC). Armutsquote der Erwerbstätigen: Anteil der Personen, die in einem Haushalt leben mit einem Einkommen unter 50 Prozent des mittleren Einkommens.

Rückverteilung nötig

Die zunehmende Ungleichheit, die durch die Corona-Krise verschärft wird, ruft nach einer Gegenstrategie, um eine weitere Polarisierung der Gesellschaft und in der Folge eine Destabilisierung zu verhindern. Nötig sind höhere Löhne insbesondere für Geringverdienende, eine Rückverteilung über die Steuern sowie eine neue Sozialpolitik. Zur Stabilisierung der Beschäftigung nach der Corona-Krise und für die dringenden Massnahmen zur Klimawende braucht es zusätzliche öffentliche Mittel.

Wie nach den Krisen als Folge des Ersten und Zweiten Weltkrieges (z.B. Kriegsgewinnsteuer, Krisenabgabe oder das eidgenössische Wehropfer) wäre eine Sonderabgabe auf hohen Vermögen und Spitzeneinkommen nötig. Zudem sollen die Unternehmenssteuern wieder auf ein höheres Niveau angehoben und harmonisiert werden. Als weitere Finanzierungsmöglichkeit bieten sich die akkumulierten Gewinne der Nationalbank SNB an (Canetg 2021). Die Ausschüttungsreserve der SNB ist in den letzten Jahren wegen der hohen Gewinne auf aktuell 98 Milliarden angestiegen. Diese Reserven gehören dem Bund und den Kantonen. Zur Bewältigung der Krise wäre es angebracht, aus diesen Reserven einmalig ein Vielfaches der heutigen Ausschüttungen von vier – oder wie neuerdings versprochen – bis zu sechs Milliarden an Bund und Kantone zu tätigen.

Diese Massnahmen könnten den Anstieg der öffentlichen Verschuldung bremsen, einen Teil der Krisengewinne abschöpfen und jene Bevölkerungsgruppen unterstützen, die am stärksten von der Krise betroffen sind.









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Erbschaftssteuer für Arme?

Jetzt kommt die Erbschaftssteuer für Arme

2015 lehnte die Stimmbevölkerung die Initiative für eine Erbschaftssteuer deutlich ab. Diese Initiative hätte Erbschaften von über zwei Millionen Franken besteuern wollen. Sie hätte nur rund fünf Prozent der reichsten Vererbenden betroffen. Immer grössere Vermögen sind in den letzten Jahrzehnten vererbt worden, zurzeit dürften es pro Jahr über 100 Milliarden Franken sein.
ARME BLUTEN. Eine Untersuchung der Steuerdaten des Kantons Bern zeigt, dass diese riesige Summe sehr ­ungleich verteilt wird. Zwei Drittel des Volumens aller Erbschaften gehen nämlich an nur 10 Prozent der Begünstigten. Allein das oberste Prozent erhält über einen Drittel des Geld­segens. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um Erbinnen und Erben, die ohnehin schon zu den Begüterten gehören. Auf der anderen Seite erhält die untere Hälfte der Begünstigten nur rund fünf Prozent des gesamten Erbschaftsvolumens.
Während die Erbschaftssteuer für Reiche damals wegen massiven Sperr­feuers und Falschinformationen der Bürgerlichen abgelehnt wurde, wird jetzt ohne grosses Aufsehen eine Art Erbschaftssteuer für Arme eingeführt. Die im Moment rund 340’000 Rentnerinnen und Rentner, die eine Ergänzungsleistung zur AHV (EL) bekommen, gehören zu jener Bevölkerungsgruppe, die über wenig Einkommen und Ver­mögen verfügen. Bei ihnen will man jetzt sparen, indem der Freibetrag beim Vermögen herabgesetzt und eine Vermögensobergrenze eingeführt wird. Auch «übermässiger» Verzehr von Vermögen oder Schenkungen vor dem Pensionsalter werden angerechnet. Das wird dazu führen, dass diese Menschen ihr meist bescheidenes Ver­mögen fast ganz aufbrauchen müssen, bevor sie etwas vererben können. Bekommen die Erbenden trotzdem noch mehr als 40’000 Franken, müssen sie damit die EL-Beiträge zurückerstatten! Dies wird die Ungleichheit bei den ­Erbschaften und den Vermögen in der Schweiz noch verstärken.
Die Erbschaftssteuerinitiative hatte damals vorgesehen, dass zwei Drittel der Erträge der AHV zugute kommen. Davon hätte die AHV-Kasse ungleich mehr profitiert als durch die Erspar­nisse, die man sich durch diese Reform auf Kosten der EL-Beziehenden und ihrer Nachkommen verspricht.

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Vertrauen in Regierung und Demokratie

Vertrauen in die Politik: Riesige Unterschiede in Europa

Trotz mächtiger Wirtschaftslobbyisten, zunehmender Ungleichheit, Lücken im sozialen Netz, Klimakrise und manchmal hoch komplexer Volksabstimmungen: In kaum einem Land ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und die demokratischen Institutionen so hoch wie in der Schweiz. Genau das Gegenteil ist in unserem Nachbarland Italien der Fall, wo dieses Vertrauen in den letzten Jahren auf ein Minimum abgesunken ist.  Die Unterschiede in Europa sind enorm.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) publiziert alle paar Jahre einen detaillierten Vergleich über das Funktionieren der staatlichen Institutionen und der Regierungsapparate. Dazu gehören auch Umfragen bei der Bevölkerung, wie sie mit der (zentralen) Regierung, dem Funktionieren der Demokratie und dem Service Public zufrieden sind. Was das Vertrauen in die Regierung angeht, sind die Unterschiede in Europa riesig. So geben in der Schweiz 85 Prozent der Befragten an, sie würden der Regierung, also dem Bundesrat, vertrauen. Das ist der beste Wert aller OECD-Länder. Relativ nahe an die Schweiz kommen die skandinavischen Länder, wie z.B. Norwegen, wo fast 70 Prozent der Regierung vertrauen. Auch unsere Nachbarländer Deutschland und Österreich sind noch über dem OECD-Durchschnitt von 45 Prozent, während Frankreich und Italien deutlich abfallen. Nur Griechenland schnitt in Europa noch schlechter ab als Italien, während Tschechien, hier stellvertretend für mehrere mittel- und osteuropäische Länder, nur wenig unter dem OECD-Durchschnitt liegt.

Krise erschüttert Vertrauen

Bei einem Vergleich mit der gleichen Umfrage im Jahr 2007 wird ersichtlich, dass in vielen Ländern die Finanzkrise und die darauffolgende Euro-Krise deutliche Spuren hinterlassen hat. Während in Italien, genau wie in Griechenland und Spanien, das Vertrauen in die Regierung stark zurückging, nahm es in der Schweiz und in Deutschland zu. Dies hatte wohl nicht oder nur zu einem Teil mit der Qualität der Regierungstätigkeit zu tun, sondern auch mit den verschiedenen ökonomischen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern. 

Aus der nebenstehenden Graphik wird ersichtlich, dass das Vertrauen in die Regierung auch damit zusammenhängt, wie die Bevölkerung das Funktionieren der Demokratie einschätzt. Im OECD-Durchschnitt sind nur 37 Prozent der Befragten der Meinung, sie hätten Einfluss auf die politischen Entscheide in ihrem Land. Ein erschreckend tiefer Wert. Auch hier ist die Schweiz mit einem Wert von 74 Prozent an der Spitze. Und dies trotz manchmal hoch komplexer Volksabstimmungen, wie diejenige vom 27. September 2020, wo allein fünf nationale Entscheide zu fällen sind, mit teilweise langfristigen Folgen, wie die Abstimmung über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union. Hinzu kommen am gleichen Abstimmungstag kantonale und kommunale Vorlagen, in die Stadt Zürich sind zum Beispiel insgesamt 13 Volksentscheide zu treffen, vom Vaterschaftsurlaub bis zum Bau eines neuen Fussballstadions. Viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger fühlen sich hier überfordert. 

Auch bei der Frage der politischen Mitbestimmung sind es die skandinavischen Länder (und die Niederlande), die in die in die Nähe des Schweizer Umfragewertes kommen. Keines unserer Nachbarländer weist bei dieser Frage einen Wert von über 50 Prozent auf. Das heisst, eine Mehrheit der Bevölkerung findet, sie habe keinen oder kaum einen Einfluss auf politische Entscheide…

Direkte Demokratie und Service Public 

Das gute Abschneiden der Schweiz hängt sicher mit der langen Tradition der direkten Demokratie zusammen. Auch wenn die Stimm- und Wahlbeteiligung inzwischen tief ist, hat die stimmberechtigte Bevölkerung die Möglichkeit, politische Entscheide direkt zu beeinflussen und nicht nur alle vier Jahre bei Parlamentswahlen. Davon ausgeschlossen ist allerdings immer noch ein Viertel der Bevölkerung, die keinen Schweizer Pass besitzt. Das Beispiel der nordischen Staaten bzw. der Niederlande zeigt aber, dass auch Bürgerinnen und Bürger in Staaten ohne direkte Demokratie der Meinung sind, sie können auf politische Entscheide wesentlichen Einfluss nehmen.

Beim Vertrauen in die Regierung spielt sicher die Schweizer «Konkordanzdemokratie» eine Rolle, da in der Regel alle grossen Parteien in der Regierung vertreten sind.  Dies garantiert neben politischer Stabilität, dass der Teil der Bevölkerung, der eine gewisse Parteibindung hat, sich in der Regierung vertreten fühlt. Die Parteibindung ist allerdings wie in anderen Ländern rückläufig. 

Wichtig ist in diesem Zusammenhang das relativ gute Funktionieren des Service Public. Viele verbinden mit dem Begriff Staat auch Bereiche wie Schule, öffentlicher Verkehr oder Gesundheitswesen. Die OECD-Umfrage zeigt, dass das Vertrauen in die Regierung auch damit zusammenhängt, wie zufrieden die Bevölkerung mit dem Bildungs- und Gesundheitssystem ihres Landes ist. In denjenigen Staaten, in denen die Leute der Regierung vertrauen, funktioniert auch das Bildungs- und Gesundheitssystem relativ gut. Schliesslich gibt es auch eine Verbindung zur Korruption und Transparenz. Je mehr Korruption und Vetternwirtschaft in einem Land verbreitet sind, desto geringer ist das Vertrauen in die Regierung. 

Eine Fussnote ist hier nötig: Die Umfragen wurden 2018/19 gemacht, also noch vor den Klimastreiks und der Corona-Krise. Möglich, dass es bei der nächsten Umfrage deshalb grössere Verschiebungen gibt.

Link: Government at a Glance 2019

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Armut in der «reichen Schweiz»

Arbeitslosigkeit und Armut sind Stichworte, die jetzt in der Coronakrise allgegenwärtig sind, auch in der Schweiz. Arbeitnehmende, die auf Kurzarbeit gesetzt oder entlassen werden, kommen wegen der Einkommenskürzung an oder sogar unter das Existenzminimum. Das gleiche gilt für eine grosse Zahl von Selbständigen, die in den letzten Monaten Verdienstausfälle in Kauf nehmen mussten. Über die Hälfte der Haushalte verfügen über weniger als 50’000 Franken Vermögen, ein Viertel der Bevölkerung besitzt gar nichts oder hat gar Schulden. Eine längere Periode mit Verdienstausfällen können die meisten nicht ohne Hilfe durchstehen, sie haben kaum Reserven.

KONSTANT HOCH. Wie die Grafik zeigt, ist Arbeitslosigkeit und Armut kein ­neues Phänomen. Bereits in den letzten 10 Jahren, die nach der Finanz­krise eigentlich Jahre der Hochkonjunktur waren, ist die Erwerbslosigkeit kon­stant hoch geblieben. Noch 2018 war die ­Erwerbslosenquote mit 4,7 praktisch gleich hoch wie 2009; erst im letzten Jahr ging sie etwas zurück. Sehr ähnlich sieht es bei der Armutsquote der Erwerbstätigen aus, die seit 2010 etwa gleich blieb. Als arm gelten Erwerbs­tätige, die in einem Haushalt leben, der über weniger als die Hälfte des ­mittleren Einkommens verfügt, 2018 entsprach das bei einem Ein­personenhaushalt 2080, bei einem Vierpersonenhaushalt 4370 Franken. Kein ­Wunder, dass auch jener Teil der Bevölkerung, der auf Sozialhilfe angewiesen ist, in den letzten 10 Jahren nicht kleiner, sondern sogar grösser geworden ist.

Quellen: BfS SAKE, Sozialhilfestatistik, Statistik über Armut und materielle Entbehrung (SILC)

50 PROZENT MEHR ARBEITSLOSE. Die Coronakrise hat jetzt zu einer noch nie dagewesenen Anzahl von Kurzarbeitenden und einem gegenüber dem Vorjahresmonat über 50prozentigen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH rechnet bis Anfang 2021 mit einem Anstieg der Erwerbslosenquote auf 6 Prozent, das wäre der höchste Wert der letzten 50 Jahre. Kurzarbeit, ­Arbeitslosigkeit und Erwerbsausfälle könnten viele Familien in den nächsten Monaten in Armut und Abhängigkeit treiben. Die Schweizerische Kon­ferenz für Sozialhilfe rechnet je nach Szenario mit einem Anstieg der Sozialhilfebeziehenden um 70’000 – 100’000 Personen, was die Sozialhilfequote von heute 3,2 auf 4 bis 4,3 Prozent erhöhen würde. Neben den nötigen Überbrückungshilfen braucht es deshalb jetzt Gegenstrategien wie ein sozial- und umweltorientiertes Impulsprogramm, um die Schweizer Wirtschaft schnell wieder aus der Krise zu führen

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Reiche zahlen immer weniger Steuern

Reiche zahlen immer weniger Steuern

In der Krise muss erst recht wieder über Verteilung und Ungleichheit gesprochen werden.

In Zeiten der Covid-19-Pandemie rücken alle zusammen und wir konzentrieren uns richtigerweise darauf, wie wir so schnell wie möglich und unter Vermeidung von Tausenden von Opfern und einer langanhaltenden Rezession aus dieser Krise herauskommen. Bald dürften Verteilungsfragen aber wieder ins Zentrum rücken. Wer bezahlt letztlich für die sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Krise? Wer muss die grössten Lasten tragen? Wer hat womöglich sogar davon profitiert? 

«Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch.»  Thomas Piketty in «Capital et idéologie»

In den letzten Monaten erschienen in den Medien Berichte über den hohen Anteil des Steueraufkommens der reichsten Steuerzahlenden.  Dabei wird meist unterschlagen, dass die Reichen auch über einen unverhältnismässig hohen und stetig steigenden Anteil der Einkommen verfügen. Ebenso bleibt unerwähnt, dass in den letzten Jahrzehnten die Steuern für Personen mit hohen Einkommen und für Unternehmen gesunken sind.   

Die betreffenden Berichte behaupten, dass die Reichen einen sehr hohen Anteil des Steueraufkommens berappen und dass das Schweizer Steuersystem so progressiv sei, dass es einen grossen Teil der bestehenden Einkommensungleichheit wieder von oben nach unten umverteile. Diese These wird vom Luzerner Professor Christoph Schaltegger, früher leitender Ökonom beim Wirtschaftsverband Economiesuisse, prominent vertreten und in den Medien verbreitet. Tatsächlich bezahlt das reichste Prozent der Steuerzahlenden fast ein Viertel aller Steuern und die reichsten 10 Prozent zahlen sogar über die Hälfte aller Bundes- Kantons- und Gemeindesteuern. 

Ungleiche Verteilung der Einkommen

Was diese Berichte unterschlagen, ist die Tatsache, dass die reichsten zehn Prozent unverhältnismässig hohe Einkommen aufweisen. Allein das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als 12 Prozent aller Einkommen, die reichsten zehn Prozent sogar über mehr als ein Drittel aller Einkommen. Gemäss Statistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) verdienen die zehn Prozent Reichsten fast doppelt so viel wie die Hälfte der Bevölkerung mit den tiefsten Einkommen. Da liegt es auf der Hand, dass sie einen wesentlich höheren Anteil der Steuern berappen müssen, der dank der Steuerprogression überproportional ist. Die progressive Wirkung verdanken wir vor allem dem Anteil der Bundessteuern, die eine deutlich höhere Progression aufweist als die Kantons- und Gemeindesteuern.

Quellen: ESTV, Steuerstatistik Direkte Bundessteuer, Dokumentation Tagesanzeiger 13.08.2019. Basis: Reineinkommen vor Steuern, Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern. 

Dies entspricht den in der Bundesverfassung festgeschriebenen Grundsätzen. Gemäss dem Verfassungsauftrag in Art. 127 muss bei der Besteuerung der «Grundsatz der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» beachtet werden. Dazu kommt, dass die Topeinkommen nur deshalb möglich sind, weil Unternehmen sich auf eine gute öffentliche Infrastruktur, eine gut qualifizierte Belegschaft und das gemeinsam erarbeitet Wissen abstützen können. Topverdiener partizipieren überdurchschnittlich an den Erträgen des Unternehmens. Es ist deshalb nur gerecht, wenn sie sich angemessen an der Finanzierung der öffentlichen Investitionen und der Infrastruktur beteiligen.

Während die unteren 50 Prozent der Steuerzahlenden einen kleineren Teil an die Steuern zahlen als es ihrem Einkommensanteil entspricht, zahlen die mittleren Einkommen bereits einen überproportionalen Anteil an Steuern. Die mittleren 40 Prozent haben gemäss Steuerstatistik ein Reineinkommen von 52’000 bis 107’000 Franken, sind also alles andere als Grossverdiener und sind zudem stark belastet durch die hohen Krankenversicherungsprämien und die hohen Wohnungsmieten. Trotzdem müssen sie einen höheren Anteil an den Steuern berappen, als es ihrem Einkommensanteil entspricht.

Steuersenkungen

Das schweizerische System der Einkommenssteuern ist nicht die Umverteilungsmaschinerie, als die es oft dargestellt wird. Tatsächlich ist der Umverteilungseffekt der Steuern hierzulande viel kleiner als in vielen anderen Ländern. Kommt hinzu, dass Gutverdienende in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Steuerreformen entlastet wurden, womit der Um- bzw. Rückverteilungseffekt deutlich abnahm.[1]  So bezahlte 1980 in der Stadt Zürich ein Paar ohne Kinder mit einem Brutto-Einkommen von einer halben Million fast 30 Prozent oder 150’000 Franken Kantons- und Gemeindesteuern. 2018 waren das nur noch 96’500 Franken oder 19.3 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwischen 1980 und der Jahrtausendwende die Inflation eine Rolle spielte, so dass eine halbe Million Einkommen 20 Jahre später einem deutlich tieferen Einkommen entsprach. Seit 2000 nahm die Teuerung nur noch um wenige Prozent zu, die Steuersenkungen waren aber immer noch beträchtlich (vgl. Grafik unten).

Quelle: ESTV, Steuerbelastung in den Kantonshauptorten, div. Jahrgänge. Basis: Kantons- Gemeinde- und Kirchensteuer.

In vielen Kantonen gab es Steuersenkungen, die speziell den Spitzenverdienenden zu Gute kamen, wie die Teilbesteuerung der Dividenden durch die Unternehmenssteuerreform II oder allgemeine Steuerfusssenkungen, von denen dank der Progression vor allem die Gutverdienenden profitierten. Auch der Grenzsteuersatz, also der Steuersatz, mit dem die höchsten Einkommensteile besteuert werden, nahm im Kanton Zürich deutlich ab, nämlich von 29.3 Prozent im Jahr 1990 auf 26.6 Prozent im Jahr 2018. Bei den Bundessteuern blieb der Grenzsteuersatz mit rund 11 Prozent etwa gleich. 

Der obige Vergleich bezieht sich auf die Stadt Zürich. Die meisten Kantone und Gemeinden in der Schweiz kennen aber tiefere Steuersätze und haben in den letzten Jahren die Steuern für Gutverdienende mehr gesenkt. So bezahlt man bei einem Brutto-Einkommen von einer Million Franken im Kanton Zürich 23 Prozent Steuern, im Kanton Zug jedoch weniger als die Hälfte, nämlich nur 10.2 Prozent. Dadurch ergibt sich für Reiche die Möglichkeiten, mittels eines Wohnsitzwechsels Steuern einzusparen und die Steuerprogression zu umgehen. Die Rückverteilungswirkung der Steuern wird dadurch noch mehr abgeschwächt. 

Die Schere geht auseinander

Als Argument für die relativ geringe Umverteilungs- oder Rückverteilungswirkung des Schweizer Steuersystems wird oft erwähnt, dass die Einkommen hierzulande im Vergleich zum Ausland nicht besonders ungleich verteilt und die Verteilung sich in den letzten Jahrzehnten auch kaum verändert habe. Oder, um mit Prof. Schaltegger zu sprechen: «Die Einkommensverteilung in der Schweizer Gesellschaft ist äusserst stabil und hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Weder nehmen die Spitzeneinkommen dramatisch zu, noch hat der Mittelstand wesentlich verloren oder hat eine Polarisierung der Gesellschaftsschichten stattgefunden.»[2] Eine solche Aussage grenzt, angesichts der Fakten und der zu diesem Thema gemachten Studien (auch derjenigen von Schaltegger selbst!), an Fake-News. Die Einkommensunterschiede haben sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten deutlich vergrössert, wie in den meisten anderen Ländern auch. Da macht die Schweiz keineswegs eine Ausnahme.

So erhöhte sich seit 1980 der Anteil der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung am Gesamteinkommen von rund 28 Prozent auf heute gut 32 Prozent. Und während bis Anfang der 1990er Jahre der Einkommensanteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung zwischen 27 und 28 Prozent betrug, sank er bis 2016 auf 25.6 Prozent (vgl. Grafik).[3]Ausgesprochen stark von dieser Entwicklung profitierten die Allerreichsten. So nahm der Anteil am Einkommen des obersten Prozents der Reichen seit 1980 um über 40 Prozent zu, während es bei den obersten zehn Prozent ca. 14 Prozent Zuwachs waren und der Einkommensanteil der unteren Hälfte abnahm. Vor allem in den letzten Jahren legte das reichste Prozent nochmals rasant zu. In der gleichen Zeit hat der Anteil der Haushalte, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegen, zugenommen.

Quelle: World Inequality Database WID. Siehe Fussnote

Die Schere zwischen den hohen und vor allem den höchsten Einkommen zu den unteren und mittleren Einkommen ist also auch in der Schweiz deutlich auseinander gegangen. 

Die obersten Einkommensschichten haben wesentlich mehr von der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte profitiert als die übrige Bevölkerung. Gemessen an ihrem Einkommen leisten sie aber immer weniger an Steuern und damit an die sozialen und ökologischen Kosten dieser Entwicklung und an die öffentliche Infrastruktur, auf welcher Ihr Reichtum zu einem wesentlichen Teil beruht. Die Rückverteilung durch den Staat und damit das Korrektiv der zunehmenden Ungleichheit verliert damit zunehmend an Wirksamkeit. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt und in Hinblick auf grosse Herausforderungen wie die Klimawende muss das Steuersystem wieder gerechter werden. Verteilungsfragen sind für die Politik aktueller denn je.  

Robert Fluder, Prof. Berner Fachhochschule

Hans Baumann, Ökonom und Publizist 


[1] Im Denknetz sprechen wir üblicherweise von Rückverteilung, nicht von Umverteilung, da die Umverteilung von unten nach oben schon vorher passiert und wir durch das Steuersystem eigentlich rückverteilen müssen. 

[2] Christoph Schaltegger in Finanz und Wirtschaft, 9.01.2020

[3] Basis: Einkommen der Steuerzahlenden vor Steuerabzug. Gemäss Bundessteuer-Statistik liegt der Anteil der unteren 50% noch tiefer, die Unterschiede beruhen auf unterschiedlicher Erfassung der Einkommen.

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Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Sinkt jetzt die Lebenserwartung?

Hans Baumann 27. März 2020

Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den meisten Ländern in den letzten 40 Jahren deutlich an, in der Schweiz bei den Männern um fast zehn Jahre auf 81.7 Jahre, bei den Frauen um gut sechs Jahre auf 83. 6 Jahre. In der Regel gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen eines Landes und der Lebenserwartung. Wenn das Pro-Kopf-Einkommen steigt, steigt auch die Lebenserwartung und umgekehrt. Dass ist zwar oft so, weil mit der Zunahme des Volkseinkommens meist auch die Armut abnimmt und die Gesundheitsversorgung verbessert wird, aber nicht immer. Dies zeigt der Vergleich der Schweiz mit den USA. In beiden Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahren gestiegen, in den USA sogar stärker als in der Schweiz. In den USA ist aber die Lebenserwartung von Frauen und Männern in den letzten Jahren gesunken.

(Quelle: Bundesamt für Statistik, National Center for Health Statistics, USA)

DROGENTOTE. Als Hauptgrund für die zunehmende Sterblichkeit in den USA wurde der Missbrauch von opiathaltigen Schmerzmitteln ausgemacht, der in den 2000er Jahren stark zugenommen und heute gegen 70’000 Drogentote pro Jahr zur Folge hat. Hinzu kommen andere Faktoren: Der ungesunde Lebensstil mit Übergewicht, Diabetes etc., was vor allem bei der ärmeren Bevölkerung verbreitet ist, an denen der wirtschaftliche Aufschwung weitgehend vorbei gegangen ist. Die letzteren Faktoren sind auch der Grund, warum die Lebenserwartung in den USA generell tiefer ist als in der Schweiz. Entscheidend für die Lebenserwartung ist auch die Qualität des Gesundheitssystems und der sozialen Absicherung bei Krankheit.

Im letzten Jahrhundert war es die Spanische Grippe, die für einem vorübergehenden Einbruch der Lebenserwartung verantwortlich war. Im Herbst 1918 verdoppelte sich die Sterblichkeit in der Schweiz und stieg auf über 10’000 Tote monatlich. Insgesamt fielen der Spanischen Grippe rund 25’000 Personen zum Opfer. Als Folge davon sank die Lebenserwartung von 55.4 auf 46.3 Jahre und erreichte erst 1920 wieder das Niveau der Jahre vor der Grippe-Pandemie, um dann wieder stetig anzusteigen.  

SOLIDARISCHE LÖSUNGEN. Mit der ­Corona-Krise könnte sich dies jetzt wiederholen, wenn auch hoffentlich nicht im gleichen Ausmass. Es hängt wesentlich davon ab, wie schnell der Anstieg der Infektionen eingeschränkt wird, wann die Fallzahlen wieder abnehmen und ob wir im nächsten Winter erneut vor der gleichen Situation stehen. Sicher ist zudem ein Rückkoppelungseffekt: Die jetzige Einschränkung der Wirtschafts­tätigkeit senkt die Einkommen und verursacht Arbeitslosigkeit, was zu einer Zunahme der Armut mit all ­ihren Folgen führen kann. Je länger anhaltend die Wirtschaftskrise ist, desto höher wird die Sterblichkeit sein und desto eher handelt es sich nicht nur um einen vorübergehenden Knick sondern um einen Trendbruch bei der Lebenserwartung. Gefragt sind deshalb nicht nur gesundheitspolitische Massnahmen, sondern auch eine Wirtschafts- und Sozial­politik, die solidarische Lösungen aus der Krise aufzeigt, so dass längerfristige Folgen vermieden werden können.

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Sind Rationierung und Verbote besser?

Wollen wir die Klimaziele erreichen, sind radikale Massnahmen nötig

Der Bundesrat will, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral ist. Das gleiche Ziel setzt sich die EU-Kommission mit ihrem kürzlich präsentierten «Green Deal». Nicht allein die Klimabewegten, auch viele in der Wissenschaft Tätige finden die Frist bis 2050 zu lang. Mindestens in wichtigen Teilbereichen, wie zum Beispiel der Heizenergie und dem Verkehr, muss das Ziel Netto-Null viel früher erreicht werden, damit das internationale Klimaziel (maximal 1.5 Prozent Erwärmung) eingehalten werden kann. Und es braucht sofortige und relativ radikale Massnahmen, wenn dieses Ziel innert nützlicher Frist erreicht werden soll. Der von verschiedenen Städten und Regionen ausgerufene «Klimanotstand» hat deshalb nicht nur Symbolwert. Er soll auch darauf hinweisen, dass wir in einer gravierenden Krise stecken, die durchaus Notstandsmassnahmen bis hin zu einem «System Change», das heisst einem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft bedingen. 

Die bisher von Regierungen und Parlamenten beschlossenen Massnahmen erscheinen dagegen wenig wirksam um nicht zu sagen lächerlich.  Hier nur zwei Beispiele: Das Schweizer Parlament hat sich auf eine CO2-Lenkungsabgabe von 12 Rappen pro Liter Treibstoff geeinigt und dies nur dank der nach den Wahlen erstarkten grünen Fraktionen. Dies entspricht beim Benzin einem Aufschlag von gerade 7 Prozent. Kaum anzunehmen, dass eine solche Erhöhung die Mobilitätsgewohnheiten entscheidend verändert oder dazu führt, dass schnell auf alternative Antriebssysteme umgestellt wird. In Österreich hat sich die neue schwarz-grüne Koalition vorgenommen, die Klimaneutralität bereits 2040 zu erreichen. Das Beispiel der dafür u.a. beschlossenen Flugticketabgabe von 12 (!) Euro wirft allerdings die Frage auf, wie ernst solche Zielsetzungen zu nehmen sind. Auch der Handel mit CO2-Zertifikaten, für viele Wirtschaftsliberale der Königsweg in der Klimadebatte, hat sich bisher als eine wenig wirksame Massnahme zur Reduktion der Treibhausgase erwiesen. 

Roosevelts «New Deal» war auch ein «Green Deal”

Dabei zeigt die jüngere Geschichte, wie schnell und radikal eine Volkswirtschaft umgepolt werden kann, wenn nur die Politik es will und wenn die Massnahmen, die dafür benötigt werden, transparent, für die Bevölkerung einsichtig und deshalb auch akzeptabel sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch eine möglichst «gerechte» Lastenverteilung.  Dabei wird unter anderem oft auf den in den USA von Franklin D. Roosevelt ab 1933 durchgeführten «New Deal» verwiesen. Die Weltwirtschaftskrise mit Deflation und hoher Arbeitslosigkeit verlangte damals radikale Massnahmen. Dazu gehörten nicht nur Arbeitsbeschaffungsmassnahmen im grossen Stil, vor allem zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, sondern auch Finanzmarktregulierungen und Massnahmen zur gerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen: die Einführung eines staatlichen Mindestlohns, eine Höchstarbeitszeit von 44 Stunden, eine staatliche Altersrente, eine Unternehmenssteuer und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes für hohe Einkommen auf 79 Prozent, später dann sogar auf 94 (!) Prozent. Das heisst, dass insbesondere die Unternehmen und die Bezüger hoher Einkommen für die Finanzierung des New Deal zur Kasse gebeten wurden; gleichzeitig wurde die soziale Absicherung gegen unten deutlich verbessert. 

Weniger bekannt ist, dass die Regierung Roosevelt damals auch mit einer ökologischen Krise zu kämpfen hatte. Als «Dust Bowl» bezeichnete man die Dürreperiode, die den mittleren Westen der USA 1935-38 heimsuchte und riesige Landstriche im wahrsten Sinn des Wortes verwüstete. Während der ohnehin prekären Situation breiter Bevölkerungsschichten in der Weltwirtschaftskrise führte diese Umweltkrise zu Hungersnöten unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung und zur Vertreibung von Hunderttausenden von Farmern in Richtung Kalifornien, wo sie als «Wirtschaftsflüchtlinge» alles andere als mit offenen Armen empfangen wurden.[1] Als Reaktion darauf wurde von der Roosevelt-Administration ein 160 km (!) breiter und von der Kanadischen Grenze bis nach Texas reichender Grüngürtel, der «Great Plains Shelterbelt», angelegt, um die Wüstenstürme zu brechen und den mittleren Westen wieder bewohnbar zu machen. Beim über 12 Jahre dauernden Aufforstungsprojekt, das natürlich auch ein willkommenes Arbeitsbeschaffungsprogramm war, wurden 220 Millionen Bäume gepflanzt, wohl bis heute eines der grössten Ökologieprojekte überhaupt. 

Drastische Massnahmen in der Kriegswirtschaft

Die Umstellung der Gesellschaft auf Kriegswirtschaft ist auch ein Beispiel dafür, wie relativ rasch in ausserordentlichen Situationen die Wirtschaft umgebaut werden kann. Dabei muss man nicht einmal das Beispiel eines Staates heranziehen, der aktiv ins Kriegsgeschehen eingreifen musste. Auch die Schweiz hat während des zweiten Weltkrieges radikale Mittel ergriffen, um die Nöte der Bevölkerung zu lindern und die Verteidigung des Landes zu sichern. Am bekanntesten in die «Anbauschlacht» des damaligen Bundesrats Wahlen, der die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln aus eigener Produktion sichern sollte. Geplant war eine Verdreifachung der Ackerbaufläche, insbesondere für den Anbau von Kartoffeln. Erreicht wurde schliesslich immerhin eine Verdoppelung. 

Ab 1941 wurde nach deutschem Vorbild ein umfassendes Rationierungssystem eingeführt, das nach und nach einen Grossteil aller Konsumgüter umfasste und nach Konsumgewohnheiten und Einkommensverhältnissen differenziert wurde, um eine möglichst «gerechte» Verteilung der Rationierungsmarken zu erreichen. Auch das Benzin wurde rationiert, was dazu führte, dass viele Halter von Fahrzeugen, die aus beruflichen oder anderen Gründen das Auto benötigten, ihre Fahrzeuge auf Holzvergaser umrüsteten. Das war eine relativ komplizierte Konstruktion, die ermöglichte, das explosive Gasgemisch für die Verbrennung im Motor mittels Holzfeuerung zu erreichen. Dank Rationierung des Benzins wurde also schon damals mindestens temporär ein Teil der Fahrzeuge in der Schweiz auf CO2-freie Mobilität umgestellt!

Rationierung gerechter?

Die Einschränkung des privaten und gewerblichen Verkehrs geschah aber nicht nur durch Treibstoff-Rationierung. Da die Armee Fahrzeuge benötigte und zu wenig Geld für den Import von Fahrzeugen vorhanden war, wurden zunächst private Lastwagen von der Armee requiriert, später dann auch immer mehr Personenwagen. Das heisst, die Fahrzeuge wurden den Leuten einfach gegen eine bescheidene Entschädigung weggenommen, der private Motorfahrzeugverkehr kam praktisch zum Erliegen. Trotz dieser relativ einschneidenden Massnahmen scheint dieses System bei der Bevölkerung angesichts der Bedrohungslage der Schweiz auf keinen grösseren Widerstand gestossen zu sein. Insbesondere das Rationierungssystem wurde als «gerecht» empfunden, da allen pro Kopf der Bevölkerung etwa gleich viele Güter zustanden. Ohne Rationierung lassen knapp werdende Güter die Preise in die Höhe schnellen, was nicht nur der Spekulation Auftrieb gibt, sondern auch dazu führt, dass sich nur noch Reiche diese Güter leisten können und die Ärmeren leer ausgehen.

In der heutigen Diskussion über die CO2-Abgabe auf Treibstoff oder den Flugticket-Zuschlag ist die gerechte Verteilung der Lasten ebenfalls ein grosses Thema. Ein Teil des Problems kann durch eine Lenkungsabgabe gelöst werden. Das heisst, dass der grösste Teil der Lenkungsabgabe gleichmässig an die Bevölkerung zurückerstattet wird. Diejenigen, welche wenig Treibstoff brauchen oder wenig fliegen, erhalten dann mehr zurückerstattet als sie über den Zuschlag ausgeben. Das hat zwar eine zusätzliche Lenkungswirkung, löst aber das Verteilungsproblem nicht vollständig. Leute mit sehr hohen Einkommen werden die zusätzlichen Kosten in Kauf nehmen und trotzdem am Wochenende nach New York fliegen oder mit ihrem schweren SUV herumfahren. Leute mit tiefen oder mittleren Einkommen können sich das nicht mehr leisten. Kommt hinzu: Das Problem derjenigen, die aus verschiedenen Gründen auf ein Fahrzeug angewiesen sind, z.B. im Bergebiet wohnen und keine gute ÖV-Versorgung haben, ist damit nicht gelöst.

Ist da nicht ein System mit Rationierung in Kombination mit Verboten gerechter und würde von der Bevölkerung eher akzeptiert? So wäre denkbar, dass den Fahrzeughaltenden z.B. ein Kontingent von max. 100 Litern Benzin/Diesel pro Monat zustünde. Dies könnte je nach Region und Abdeckung mit öffentlichem Verkehr abgestuft sein. Gewerbliche Fahrzeuge erhielten ein grösseres Kontingent. Beim Flugverkehr wäre ein Kontingent von pro Person z.B. 3’000 Flugkilometern denkbar (heutige werden pro Kopf der Bevölkerung in der Schweiz 9’000 km pro Jahr geflogen!). Für eine Reise in die USA müsste man dann zwei Jahre «ansparen». Firmen bekämen zusätzliche Kontingente. 

Lernen aus der Vergangenheit

Ein System der Rationierung könnte durch klarere Emissionsgrenzwerte ergänzt werden. Angesichts der Tatsache, dass die CO2-Emissionen des Autoverkehrs im letzten Jahr trotz Grenzwerten angestiegen sind, müsste das System viel effektiver funktionieren als mit den heutigen Grenzwerten für den Flottenverbrauch, die ja offenbar kaum etwas nützen. Bei Personenwagen wäre z.B. ein Verbot von Antrieben mit mehr als 120 Gramm CO2 mit einem jährlichen Absenkungspfad von den heutigen technischen Möglichkeiten her ohne weiteres durchsetzbar. Beim Flugverkehr müssten Vorgaben gemacht werden für die jährliche Senkung des Anteils an fossilem Treibstoff. 

Das System von Rationierungen ist in einem globalisierten Markt nicht so einfach realisierbar wie in Zeiten der Kriegswirtschaft. Bei einer Benzinrationierung würde ohne strikte Zollkontrollen viel mehr im Ausland getankt oder es gäbe sogar einen Handel mit illegalen Treibstoffimporten und einen Schwarzmarkt mit all seinen Auswüchsen. Allerdings sind Rationierung und Verbote bereits heute kein Tabu mehr: Der Kanton Basel-Stadt kennt für Neubauten und beim Ersatz bestehender Heizungen bereits ein Verbot von Öl- und Gasheizungen und die Musterverordnung der Kantone für den Energiebereich aus dem Jahr 2018 sieht dies eigentlich für alle Kantone vor. Leider wurde dies in den meisten noch nicht umgesetzt. Bis jetzt gibt es aber kaum Opposition gegen solche Massnahmen, auch nur eher zaghaft vom Hauseigentümerverband und der Immobilienlobby. Warum ist ein ähnlich striktes Regime wie bei Neubauten und Ersatzbauten nicht auch beim Individualverkehr und Flugverkehr möglich?

Die Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt: Auch einschneidende Massnahmen und grosse Investitionen, ja sogar ein Umbau der Wirtschaft, werden von der Bevölkerung akzeptiert, wenn deren Dringlichkeit wie in Krisenzeiten offensichtlich ist und die Verteilung der Lasten nicht einseitig auf Kosten der unteren und mittleren Einkommensschichten oder einzelner Regionen geht.  Wichtig ist zudem, dass vor allem die Verursachenden zur Kasse gebeten werden und die Massnahmen transparent sind. Im Moment scheint Vielen die Dringlichkeit von «Notstandsmassnahmen» für die Klimawende noch nicht bewusst zu sein, auch wenn die Klimastreiks eine enorme Bewegung ausgelöst haben. Dies kann sich aber auch hierzulande schnell ändern, wenn die persönliche Betroffenheit durch die Klimaveränderung ähnlich gross wird wie in anderen Weltregionen, die von extremen Wettersituationen, Überschwemmungen, Trockenheit oder sogar Hungersnöten heimgesucht werden. 


[1] Beschrieben wurde dieses Elend eindrücklich von John Steinbeck in «Früchte des Zorns», besungen u.a. von Woody Guthry. 

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Klimawende verlangt mehr staatliche Investitionen

Klimawende verlangt mehr staatliche Investitionen

Hans Baumann

Journalisten picken gern jene Ergebnisse aus dem jährlichen OECD-Bericht heraus, die ihnen gerade in den Kram passen. Im jüngsten Bericht über die Schweiz (OECD 2019) zum Beispiel die Empfehlung, das Rentenalter der demographischen Entwicklung anzupassen bzw. zu flexibilisieren.

Der OECD-Länderbericht geht aber auch auf andere, dringende Probleme ein. Wie in vielen anderen Industrieländern sinken oder stagnieren in der Schweiz die öffentlichen Investitionen seit vielen Jahren. Das sind Investitionen in die Infrastruktur, also die Energieversorgung, den Verkehr, das Gesundheitswesen, das Bildungssystem usw. Tatsächlich sind die staatlichen Brutto-Anlageinvestitionen, darin eingerechnet sind alle Investitionen in den Ersatz und in den Unterhalt bestehender Anlagen, in der Schweiz seit 1997 nur um ca. 20 Prozent gestiegen, drei Mal weniger als das Bruttoinlandsprodukt. Die staatlichen Investitionen sind auch gemessen an den gesamten Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden gesunken, nämlich von über 7 Prozent auf ungefähr 6 Prozent im Jahr 2017. Von 2009 bis 2016 sind sie auf dem Niveau von rund 12 Milliarden Franken verharrt. Erst 2017 gab es wieder einen Anstieg auf gut 13 Milliarden. Der grösste Teil dieser Investitionen ging zudem in die Erneuerung und den Unterhalt der Infrastruktur. Nur Anlagen im Wert von ein bis zwei Milliarden waren in den letzten Jahren Neuinvestitionen, haben also tatsächlich das «Volksvermögen», vermehrt. Das ist bedeutend weniger als in den 1990er Jahren. Gemessen am Bruttoinhaltsprodukt sind die öffentlichen Netto-Investitionen in der Schweiz deutlich tiefer als in anderen vergleichbaren Ländern. Während dieser Wert im OECD-Durchschnitt in den letzten Jahren rund 0.5 Prozent betrug, investierte die öffentliche Hand in der Schweiz gemessen am BIP nur rund 0.25 Prozent (OECD 2019, S. 35). 

Quelle: Eidg. Finanzverwaltung, Finanzstatistik der Schweiz, div. Jahrgänge, eigene Berechnungen

Staatlicher Handlungsspielraum wird kleiner

Die meisten Länder weisen für die letzten Jahre einen starken Anstieg und eine weitere Konzentration von Privatvermögen auf. Im Gegensatz dazu ist das öffentliche Vermögen stagniert (Méaulle 2019, S. 74). In der Schweiz mit ihren hohen Zuwächsen an Privatvermögen ist diese Diskrepanz besonders ausgeprägt. Während seit der Jahrtausendwende das öffentliche Vermögen nur um 1.4 Milliarden pro Jahr zugenommen hat, erhöhte sich das private Nettovermögen jährlich um über 130 Milliarden, also fast 100 Mal mehr (Crédit Suisse 2019). Eine Rolle kann dabei auch die Privatisierung ehemals öffentlicher Unternehmen, wie z.B. Spitäler, gespielt haben. In der Schweiz, mit seiner relativ gut ausgebauten Infrastruktur, kann deshalb nicht gerade von «öffentlicher Armut» gesprochen werden. Zudem benötigt eine gut ausgebaute Infrastruktur in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft immer mehr Mittel für die Instandhaltung. Trotzdem: Durch die Konzentration des Reichtums bei Privaten bei gleichzeitiger Stagnation der öffentlichen Vermögenswerte verringert sich der Spielraum des Staates zur Regulierung der Wirtschaft, für Massnahmen gegen die zunehmende Ungleichheit aber auch für neue Herausforderungen wie den Klimawandel.   

Neue Herausforderungen bedingen höhere Investitionen

Dabei gäbe es viel zu tun: Der jüngste OECD-Bericht empfiehlt, vor allem dort mehr zu investieren, wo grosse Herausforderungen auf uns zukommen. Bei der Klimawende, der Alterung der Bevölkerung, bei der Bildung und Kinderbetreuung. Der schweizerische Thinktank Denknetz schätzt, dass für die dringenden Massnahmen der Klimawende, wie die Energieversorgung oder der Umbau der Verkehrsinfrastruktur,  und die sozialen Reformvorhaben in Bereichen wie Altersvorsorge, Langzeitpflege oder Kinderbetreuung, jährliche Mehrausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden in der Höhe von über 50 Milliarden Franken nötig sind (Baumann u.a. 2019). Ein grosser Teil davon sind öffentliche Investitionen und Investitionsbeiträge.

Der OECD-Bericht weist auch darauf hin, dass höhere öffentliche Investitionen einen nützlichen Nebeneffekt auf die Geldpolitik hätten. Davon ausgehend, dass ein Teil des Aufwertungsdruckes des Schweizer Frankens durch die hohen Leistungsbilanzüberschüsse verursacht werden, können vermehrte öffentliche Investitionen durch die Ankurbelung der Binnenwirtschaft dazu beitragen, diese Überschüsse zu verringern und einer Aufwertung des Frankens entgegenzuwirken.   

Literatur

Baumann, Hans: Sinkende staatliche Investitionen gefährden Wachstum. In: Ökonomenstimme 27.6.2016.

Baumann, Hans, Kallenberger, Werner, Rey, Romeo, Wickli, Johannes (2019): Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle. Denknetz Working Paper. 

Crédit Suisse Research Institute (2019): Global Wealth Databook, October 2019. 

Eidgenössische Finanzverwaltung: Finanzstatistik der Schweiz. Div. Jahrgänge.

Fournier, Jean-Marc (2016): The Positive Effect of Public Investment on Potential Growth, OECD Working Papers No. 1347. Paris.

Marin, Dalia: Jetzt ist für den deutschen Staat genau die richtige Zeit zu investieren. In: Ökonomenstimme 30.8.2019.

Méaulle, Matthieu (2019): Gewinne, Investitionen und Gleichheit: eine vorläufige Einschätzung. In: Peter Scherrer, Juliane Bir, Wolfgang Kowalsky, Reinhard Kuhlmann und Matthieu Méaulle: Jetzt für ein besseres Europa! Brüssel.

OECD (2019): OECD Economic Surveys, Switzerland 2019. Paris.

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Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle

Ohne radikale Umkehr in der Steuerpolitik verlieren alle

Die Unternehmenssteuersätze sind weltweit ungebrochen am Sinken. Die Gewinnsteuersätze, die in den 1980er Jahren im OECD-Durchschnitt noch gegen 50 Prozent betrugen, haben sich fast halbiert. Die Schweiz machte bei diesem Steuerwettbewerb bereits in den letzten Jahren fleissig mit. Dabei haben sich die effektiv bezahlten Steuern immer mehr von den statutarischen (d.h. in den Steu ergesetzen festgelegten) Steuersätzen entfernt:

Verschärfter Steuerwettbewerb und Umverteilung

In der Schweiz geschah dies seit 1998 vor allem wegen der Einführung der Steuerprivilegien für Holdingfirmen und ähnliche Gesellschaften. Solche oder andere Steuervergünstigungen gibt es allerdings auch in anderen Ländern.

Die Senkung der Unternehmenssteuern lässt sich auch an der Entwicklung der in der Schweiz anfallenden Gewinne, wie sie gegenüber den Steuerbehörden deklariert werden, und dem daraus resultierenden Steuerertrag zeigen. So entwickelten sich die Unternehmensgewinne seit 1990 rasant, nämlich von weniger als 50 Milliarden auf fast 400 Milliarden Franken im Jahr 2015. Das ist eine Verachtfachung. Zieht man davon die Beteiligungsgewinne ab, die nicht versteuert werden müssen, da sie in einem anderen Kanton oder Staat hätten versteuert werden sollen (was aber nicht immer der Fall ist…), kommt man immer noch auf eine Steigerung von 25 auf 130 Milliarden, das ist über fünf Mal mehr. Demgegenüber haben die Steuereinnahmen von Bund, Kanton und Gemeinden nur von gut 7 auf 21 Milliarden zugenommen. Die effektiven Steuersätze sanken damit von fast 30 auf gut 16 Prozent, bzw. 5.5 Prozent unter Einbezug der Beteiligungsgewinne. 1990 erreichten die Beteiligungsgewinne erst einen Drittel der Gesamtgewinne. Im Jahr 2000 waren sie bereits gleich hoch wie die Gewinne ohne Beteiligungen. Und im Jahr 2015 waren die Beteiligungsgewinne, also die Gewinne, die steuerfrei sind, schon beinahe drei Mal höher.

Der Abwärtstrend bei den Unternehmenssteuern kann nicht so weitergehen. Zum ganzen Artikel geht es hier. Eine Kurzfassung ist in der Denknetz-Zeitung erschienen.

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