Konservierung von Ungleichheit und Klassenstruktur

Konservierung von Ungleichheit und Klassenstruktur
In der Schweiz hat das Wirtschaftswachstum in den ersten Nachkriegsjahrzehnten dazu geführt, dass die meisten Bevölkerungsschichten von unmittelbarer Armut befreit wurden. Die Ungleichheit in der Gesellschaft hat sich aber dadurch nicht verringert, sondern konserviert oder sogar akzentuiert und seit der neoliberalen Wende hat die Armut wieder zugenommen.
Wie in den meisten anderen Industrieländern war die Einkommensungleichheit während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz gross, wenn auch etwas geringer als in vergleichbaren Ländern. Das fordistische Nachkriegsmodell war danach geprägt durch den Ausbau des Sozialstaates, progressive Steuersysteme und das Erstarken der Gewerkschaftsbewegungen, einhergehend mit schnell wachsenden Löhnen und höheren Renten. Betrachtet man den Anteil des reichsten Prozents der Bevölkerung am Gesamteinkommen, sinkt die Ungleichheit in vielen Ländern ab den 1950er-Jahren deutlich. In der Schweiz blieb die Einkommensverteilung bis in die 1960er-Jahre stabil, war aber eine der ungleichsten, sogar ungleicher als jene in den USA.
Dann setzte in der Schweiz mit dem verspäteten Ausbau des Wohlfahrtstaates die Entwicklung zu mehr Verteilungsgerechtigkeit ein. Marksteine waren der Ausbau der AHV und die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung in den frühen 1980er-Jahren. Ab 1980 erfolgte die weltweite neoliberale Wende, eingeläutet durch die Reformen in der Thatcher-/ Reagan-Ära. Sie waren gekennzeichnet durch die Deregulierung der Arbeitsmärkte, den einsetzenden Sozialabbau, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sowie Steuersenkungen für Unternehmen und auf hohen Einkommen und Vermögen. Ab den 1990er-Jahren wurden die Finanzmärkte dereguliert, und im Zuge der Arbeitsmarktderegulierung und des rasanten Strukturwandels wurde die Gewerkschaftsbewegung geschwächt.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass die obersten Einkommensgruppen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsschichten übermässig von Produktivitäts- und Wachstumsgewinnen profitierten. Zudem reduzierten der Sozialabbau und die Steuersenkungen die staatliche Umverteilung von oben nach unten deutlich.
Der deregulierte Arbeitsmarkt führte zu einer Zunahme der nichtstandardisierten Arbeit. Insbesondere Temporärarbeit, befristete Anstellungen, Arbeit auf Abruf, freiwillige und unfreiwillige Teilzeitarbeit sowie Pseudoselbständigkeit erhöhen die Ungleichheit des Erwerbseinkommens. Digitalisierung und Globalisierung haben diese Entwicklung verstärkt.
Besonders ausgeprägt ist in der Schweiz die starke und zunehmende Konzentration von Produktivkapital, Finanzkapital und Liegenschaftsvermögen bei einer kleinen Schicht der Bevölkerung. Die geringe soziale Mobilität, hohe Erbschaften über Generationen und eine Steuerpolitik im Interesse der Vermögenden haben die Klassenstrukturen in den letzten Jahrzehnten nicht nur konserviert, sondern verstärkt.
Aus: Arman Spéth, Dominic Iten, Lukas Brügger (Hg.). Schweizer Kapitalismus. Erfolgsmodell Schweiz in der Krise. Wien 2025. Erhältlich im Buchhandel.